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Wie sich russische LGBTQ+ gegen Verfolgung wehren

Stuart Braun
16. Januar 2024

Putins Russland verteufelt die LGBTQ+-Community als "Extremisten". Doch queere Kulturschaffende finden trotzdem Wege, sich in Zeiten von Repression und Bevormundung Gehör zu verschaffen. Zur Not im Exil.

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Filmstill aus der Dokumentation "Queendom": Ein maskierter Mensch sitzt auf einem Schimmel vor dem Kreml.
"Queendom" ist eine Dokumentation über die russische Queer-Aktivistin Gena MarvinBild: Queendom/Dogwoof

Im Jahr 2020 sah es noch so aus, als würden sich queere Kulturschaffende in Russland ihren Weg suchen - ein kleines Wunder in einem Staat, der einen Großteil des LGBTQ+-Kulturlebens verboten hatte. 

"Die LGBT+-Musik- und Ausgehszene des Landes ändert den Blick der Welt auf die russische Jugend", schrieb das" i-D magazine" (eine britische Modezeitschrift, Anm. d. Red.) im April 2020.

Der schwule Künstler und Musiker Angel Uljanow schien alle Ideale der Szene zu verkörpern. Seine letzte Single und sein letztes Video "entlarvten" die "Homophobie" in der ehemaligen Sowjetunion. 

Die Moskauer Zeitschrift "O-Zine", die fünf Jahre nach der Verabschiedung des berüchtigten "Schwulen-Propaganda-Gesetzes" durch Präsident Wladimir Putin im Jahr 2013 gegründet wurde, galt damals als Avantgarde des queeren Kunst-Undergrounds.

Ukraine-Krieg legt LGTBQ+ lahm

Doch diese vorübergehende Toleranz hat sich seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 verflüchtigt. "O-Zine" wurde auf Eis gelegt, und viele queere Künstlerinnen und Künstler sahen sich gezwungen, ins Exil zu gehen.

Im November 2022 erweiterte das russische Parlament das Gesetz über homosexuelle Propaganda, das im Wesentlichen gleichgeschlechtliche Beziehungen oder, wie es im Gesetz heißt, die Förderung "nicht traditioneller sexueller Beziehungen" zwischen Minderjährigen verbietet.

Das neue Gesetz unterbindet nun die Verbreitung jeglichen Materials, in dem LGBTQ+ positiv dargestellt wird - sei es in Büchern, Filmen, in der Werbung oder im Internet.

Die Gesetzgeber geben vor, "traditionelle" russische Werte gegen den freizügigen liberalen Westen zu verteidigen - ein Argument, mit dem auch der Angriff auf die Ukraine gerechtfertigt wurde.

"LGBT+ ist heute ein Element der hybriden Kriegsführung, und in dieser hybriden Kriegsführung müssen wir unsere Werte, unsere Gesellschaft und unsere Kinder schützen", sagte der Politiker Alexander Khinshtein im Oktober 2022, als er das neue LGBTQ+-Propagandagesetz vorstellte.

Einen Monat nach seiner Verabschiedung verbot der Gesetzgeber dem unabhängigen russischen Verlag PopCorn den Verkauf von Büchern mit queerem Inhalt. Um zu überleben, hat der Verlag sich jetzt auf Teenager-Literatur spezialisiert. 

Razzien in queerer Kunstszene

Das Gesetz setze LGBTQ+-Lebensstile mit Pädophilie gleich, bemerkte der schwule Musiker Angel Uljanow damals in einem Instagram-Post . "Die Behörden planten einen Krieg nicht nur in der Ukraine, sondern auch in ihrer eigenen Gesellschaft. Sie wählten ein neues Ziel für diesen Krieg - die LGBT-Community", schrieb er.

"Ich bin nicht mehr wütend und empört über diesen Kampf mit 'nicht-traditionellen Werten'. Ich möchte einfach nur vergessen, dass es dieses Land gibt."

Uljanow hat Russland inzwischen verlassen und lebt in den USA. Viele andere queere Künstler sind ihm gefolgt, darunter der LGBTQ+-Aktivist und Museumskurator Piotr Voskresensky, der sich seit 2007 für LGBTQ+-Rechte in Russland einsetzt - "als Proteste noch möglich waren", wie er es im DW-Interview nach seiner Flucht nach Deutschland 2023 formulierte.

Zuvor war Voskresensky bedroht worden. Er sah sich gezwungen, eine Ausstellung in Sankt Petersburg abzubrechen.

Der Grund: Sie bot russischen LGBTQ+-Persönlichkeiten eine Plattform, darunter dem russischen Komponisten Pjotr Tschaikowski. "Seit Beginn der Invasion (Russlands in der Ukraine, Anm.d. Red.) wusste ich, dass eine weitere Razzia bevorstehen würde", sagte er. "In den ersten Monaten hatte ich sogar Angst, meine Wohnung zu verlassen."

Russland: LGBTQ-Aktivist auf der Flucht

Verfolgung unter dem Deckmantel "traditioneller Werte" 

Hatte das Propagandagesetz bereits erfolgreich dazu beigetragen, queeres kulturelles Leben aus Russland zu vertreiben, so wurde dieser Versuch im November 2023 noch verstärkt, als der Oberste Gerichtshof Russlands erklärte, die internationale LGBTQ+-Gemeinschaft sei Teil einer "extremistischen Bewegung".

Ihre Aktivitäten würden ab 2024 verboten, so das Gericht. Einige Tage später wurde berichtet, dass die russische Polizei mit Razzien in Clubs und Bars begonnen hatte, in denen sich lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, queere und nicht-binäre Menschen treffen.

Mit Unterstützung der Russisch-Orthodoxen Kirche wurde Putins Neuausrichtung auf nicht-westliche "traditionelle Werte" durch sein Dekret unterstützt, das 2024 als "Jahr der Familie" ausrief.

"Stop Homofobia" steht auf einem Plakat eines Aktivisten, der vor der russischen Botschaft für die Aufhebung des "Homosexualitätspropaganda"-Gesetzes demonstriert.
Aktivisten fordern vor der russischen Botschaft in Madrid die Aufhebung des "Homosexualitätspropaganda"-GesetzesBild: Rodrigo Garcia/ZUMAPRESS.com/picture alliance

Gena Marvin, eine Anfang 20-jährige "Drag-Aktivistin", forderte die Behörden in Moskau Anfang der 2020er-Jahre mit ihrer queeren Performancekunst heraus. Die nicht-binäre Künstlerin, die in dem gefeierten Dokumentarfilm "Queendom" porträtiert wird, tritt in Kostümen auf, die oft eine Botschaft vermitteln - auch über die Kämpfe der LGBTQ+-Gemeinschaft in Russland.

"Queendom" erzählt von Queer-Künstlerin 

Der Film dokumentiert Genas Anti-Kriegs-Statement: Sie entwarf ein Stacheldraht-Outfit, das sie wenige Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine auf den Straßen Moskaus präsentierte.

Sowohl Gena als auch die Regisseurin wurden daraufhin von der Polizei verhaftet. Die im Osten Sibiriens aufgewachsene Künstlerin musste Russland verlassen.

Heute lebt sie in Paris, wo sie ihre Arbeit fortsetzt - und ihren Protest. "Es ist mehr als eine einzigartige Geschichte über eine Person", schrieb Gena Marvin über "Queendom" in einem Instagram-Post.

"Es handelt sich um ein Dokument der menschlichen Freiheit. Einen Weg, sich zu vereinen, einen Weg zu kämpfen, man selbst zu sein. Queendom ist eine der vielen Geschichten der queeren Gemeinschaft." 

Am Ende des Social-Media-Beitrags schlug Gena Wege vor, nach Paris ins Exil zu gehen, "wenn Sie darüber nachdenken, Russland zu verlassen". So versuchen sich russische Queer-Kreative inmitten von Krieg und Repression in ihrer Heimat Gehör zu verschaffen - wenn auch immer öfter aus dem sicheren Exil.

Adaption aus dem Englischen: Sabine Oelze.

DW Autor l Kommentatorenfoto Stuart Braun
Stuart Braun Australischer DW-Journalist und Buchautor.