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Konflikte

Wie die Türkei um russische Touristen wirbt

Seda Bilen
2. Mai 2022

Die Türkei will attraktiver für Urlauber aus Russland werden. Sie sollen der krisengebeutelten Wirtschaft wieder auf die Beine helfen. Dafür weitet das Land die Nutzung des russischen Zahlungssystems Mir aus.

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Kremlin Palace Hotel in einer Ferienanlage in Antalya
Eine große Zahl der Urlauber in der Türkei kommt aus RusslandBild: Alexander Demianchuk/TASS/picture alliance / dpa

Die Türkei muss ihre krisengeschüttelte Wirtschaft wieder ankurbeln. Dafür will sie unter anderem die Einnahmen aus dem Tourismus auf das Niveau vor Beginn der Corona-Pandemie anheben. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn in den Bereichen Energie, Handel und Tourismus ist die Türkei stark von Russland abhängig. Im Jahr 2019 erreichte das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern 25,7 Milliarden Euro. Zudem ist Russland einer der wichtigsten Energielieferanten der Türkei.

Auch deshalb lehnt das NATO-Mitglied Türkei die westlichen Sanktionen gegen Russland ab und beteiligt sich nicht an ihnen. Angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und einer Inflationsrate, die aufgrund steigender Energie- und Getreidekosten ein 20-Jahres-Hoch erreicht hat, möchte das Land seine guten Beziehungen sowohl zu Russland als auch zur Ukraine aufrechterhalten.

Einnahmen aus dem Tourismus gelten als unverzichtbar, um das klaffende Defizit in der Leistungsbilanz zu reduzieren. Die durch die Sanktionen gegen Russland verursachten Einschränkungen beim Zahlungs- und Flugverkehr wecken allerdings die Befürchtung, dass die Zahlen russischer Touristen in der Türkei einbrechen könnten. Doch es scheint, als habe die Türkei eine Lösung gefunden.

Ein eigenes russisches Zahlungssystem

Die US-amerikanischen Kartenriesen Mastercard und Visa haben ihr Geschäfte mit Russland im Rahmen der auf Wladimir Putin zielenden US-Sanktionen eingestellt. Doch die Türkei hat einen Weg gefunden, über den russische Touristen in der Türkei diese Sperrung umgehen können: Sie können über das russische Zahlungssystem Mir auf ihr Geld zugreifen, das Russland 2014 eingerichtet hat.

Bereits damals befürchtete man in Moskau wegen der Annexion der Krim, dass westliche Sanktionen gegen russische Banken und Geschäftsleute Transaktionen mit Mastercard und Visa unmöglich machen könnten. Später wurde Mir auch in einigen anderen Ländern eingeführt, in denen besonders viele Russen unterwegs sind oder leben.

Russische Touristen in einer Ferienanlage in der Türkei
Die Türkei war schon immer ein beliebtes Urlaubsziel für russische TouristenBild: Chris McGrath/Getty Images

Die für Überweisungen genutzten Mir-Karten werden laut russischer Zentralbank in der gesamten Russischen Föderation und zwölf weiteren Ländern verwendet, darunter Armenien, Kirgistan, Kasachstan, Belarus, Vietnam und Zypern. Ende 2021 belief sich die Zahl der ausgestellten Mir-Karten auf 113,6 Millionen.

Zahlungen mit Mir-Karte werden in der Türkei zurzeit von drei Banken akzeptiert: Isbank, Ziraat Bankasi und VakifBank. Isbank begann mit Verweis auf die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern bereits 2019, Mir-Karten anzunehmen. Die Banken arbeiten daran, die Nutzung auszuweiten, obwohl die ukrainische Zentralbank die Türkei aufgefordert hat, sämtliche Transaktionen mit Karten des russischen Zahlungssystems einzustellen.

Aufgrund der westlichen Sanktionen haben Russen in der Türkei gegenwärtig nur die Option, mit Mir-Karte oder Bargeld zu bezahlen. Berichten zufolge sind türkische Banken zögerlich, wenn es darum geht, Konten für neu in der Türkei angekommene Russen zu eröffnen, aus Furcht, gegen Sanktionen zu verstoßen. Seit Beginn des Krieges sind Tausende Russen in die Türkei gekommen, um den Sanktionen zu entgehen.

Das Dilemma des Krieges

Fachleute warnen, das Vorgehen der Türkei könnte als Versuch gewertet werden, die Sanktionen zu umgehen. Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen des Landes, das wie Russland und die Ukraine am Schwarzen Meer liegt, seien kompliziert, sagte die in Istanbul ansässige Wirtschaftsexpertin Güldem Atabay im Gespräch mit der Deutschen Welle: "So wie Deutschland kein Energieembargo verhängen kann, ist auch nachvollziehbar, dass sich die Türkei mit ihrer Haltung gegenüber Russland selbst schützen will."

Die Kehrseite der Russlandsanktionen

Gleichzeitig warnt sie, die Türkei müsse vorsichtig sein: "Sollte versucht werden, Energie von Russland zu kaufen und an den Westen weiterzukaufen, ist diese Haltung nicht mehr richtig, sondern falsch. Das Potenzial für solche Initiativen ist in unserem Land hoch. Sollten Rohölprodukte hier gekauft und verarbeitet und dann an den Westen weiterverkauft werden, könnte das zu einem Problem werden, wenn Russland damit das westliche Embargo unterläuft." Das zeige auch die strafrechtliche Verfolgung des staatseigenen türkischen Kreditinstituts Halkbank durch die USA, so Atabay.

Auch Timothy Ash, Strategieberater bei BlueBay Asset Management in London, äußerte sich auf Twitter kritisch zum türkischen Vorgehen hinsichtlich der Sanktionen gegen Russland: Die Türkei bewege sich auf einem schmalen Grat und laufe Gefahr, sich dem Vorwurf auszusetzen, aktiv vom Krieg und dem Elend der Ukrainer profitieren zu wollen.

Wie realistisch sind mehr Touristen aus Russland?

Die türkische Regierung hofft, dass der Tourismus nach der COVID-19-Krise in diesem Jahr einen Aufschwung erlebt und die Einnahmen wieder auf ein vorpandemisches Niveau von 35 Milliarden US-Dollar steigen. Atabay ist jedoch überzeugt, dass die Türkei dieses Ziel nicht erreichen wird. Sie geht davon aus, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr um zehn Prozent einbrechen wird: "Die russische Währung hat an Wert verloren, die Inflation steigt. Die Kaufkraft russischer Touristen und der Russen allgemein ist gesunken. Einige Russen werden auf einen Urlaub verzichten."

Von den 24,7 Millionen Touristen, die im vergangenen Jahr in der Türkei Urlaub machten, kamen etwa 4,7 Millionen aus Russland. Sie machten damit laut Zahlen des türkischen Ministeriums für Kultur und Tourismus mit 19 Prozent der Touristen insgesamt die größte Gruppe aus, gefolgt von deutschen Touristen mit 12,5 Prozent und ukrainischen Touristen mit 8,3 Prozent.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.