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Wer Sport treibt, kommt früher aus dem Knast

Ericka de Sá/ Astrid Prange (kk)6. November 2013

Zu voll und zu gefährlich: Brasilien kämpft gegen die extreme Überbelegung in seinen Gefängnissen. Ein "nationaler Pakt" sieht vor, dass Häftlinge künftig durch Sport und Lektüre ihre Strafen verringern können.

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Jugendgefängnis Rio de Janeiro Foto: Bastian Henning/Adveniat
Bild: Bastian Henning/Adveniat

Es stinkt nach Schweiß und Urin. Hinter einer Betonwand: eine verdreckte Kloschüssel. Überall Fliegen, Ratten laufen über den modrigen Grund. Keine Pritschen oder Matratzen. Die 40 Häftlinge schlafen auf dem nackten Boden.

Gefängnisalltag in Brasilien: überfüllte Zellen, katastrophale Hygienezustände, Gewalt. So beschreibt Pfarrer Valdir Joao Silveira, landesweiter Koordinator der brasilianischen Gefängnispastoral, die Zustände hinter Gittern. Silveira besucht regelmäßig Justizvollzugsanstalten, zuletzt inspizierte er drei Gefängnisse im brasilianischen Bundesstaat Pará.

Brasilien ist nach den USA, China und Russland das Land mit der viertgrößten Zahl von Strafgefangenen weltweit. Von 2005 bis 2012 stieg die Zahl der Häftlinge von 361.000 auf 513.000 Personen an. In den Haftanstalten gibt es jedoch nur weniger als 300.000 Plätze.

Mehr Sport, weniger Haft

Nun zieht Brasilien die Notbremse. Bis 2014 will die Regierung rund 300 Millionen Euro für zusätzliche Haftplätze investieren, um die extreme Überbelegung zu verringern. Im brasilianischen Kongress wird derzeit ein Gesetzesentwurf diskutiert, der erstmals die Teilnahme an Sportprogrammen für Hafterleichterungen und -verkürzungen vorsieht.

Gleichzeitig riefen Behörden, Nichtregierungsorganisationen und Universitäten einen "nationalen Pakt" ins Leben, um die Teilnahme von Häftlingen an Sozial- und Kulturprogrammen voranzutreiben. Auch die Rechtmäßigkeit der Haftstrafen soll überprüft werden. Gegebenenfalls kann dadurch die Strafe kürzer ausfallen.

Häftlinge im Staatsgefängnis von Sao Paulo. Foto: dpa
Strafgefangene im Staatsgefängnis in Sao Paulo nach einer Meuterei und einem gescheiterten FluchtversuchBild: picture alliance / dpa

"Das brasilianische Gefängnissystem ist aus den Fugen geraten", erklärt Richter Douglas de Melo Martins, der für den nationalen Justizrat (CNJ) die Kontrolle über Brasiliens Gefängnisse ausübt. Der Fachmann fordert die Auflösung der riesigen Hochsicherheitsgefängnisse. "Die Resozialisierungsprogramme weisen den größten Erfolg in kleineren Einheiten auf", sagt er.

Einsitzen ohne Urteil

Der Justizrat hat Anfang November mit der Inspektion von Gefängnissen im brasilianischen Bundesstaat Alagoas begonnen. Einen Monat lang sollen die Haftbedingungen in den sechs Vollzugsanstalten untersucht werden. Die Überbelegung ist auch dort eklatant: Für die 2353 männlichen Häftlinge gibt es lediglich 1493 Plätze. Die Mehrheit der Insassen ist noch nicht einmal rechtskräftig verurteilt.

Das Elend hinter Gittern erschüttert immer wieder die brasilianische und die internationale Öffentlichkeit. Meutereien, Folter, organisierte Kriminalität und Gewalt der Häftlinge untereinander haben die Gefängnisse des Landes zum Synonym für Menschenverachtung werden lassen. Der Massenmord in dem berüchtigten Gefängnis "Carandiru" in Sao Paulo, in dem vor 25 Jahren bei einer Meuterei 111 Häftlinge von der Militärpolizei erschossen wurden, ist ein Symbol für die Misstände.

Mit den neuen Resozialisierungsmaßnahmen sollen nun die gravierenden Probleme zumindest abgeschwächt werden. Nach dem brasilianischen Recht für Strafvollzug können Häftlinge bereits jetzt im offenen oder halboffenen Vollzug die Dauer ihrer Strafe durch Arbeit oder Bildung verkürzen: Für drei geleistete Arbeitstage oder zwölf erfolgreich absolvierte Unterrichtsstunden können sie ihre Haftzeit unter bestimmten Voraussetzungen um einen Tag verkürzen.

Stromerzeugung mit dem Fahrrad

Doch nicht alle Gefängnisse sind in der Lage, ihren Häftlingen die Teilnahme an den entsprechenden Programmen anzubieten. Um dieses Manko aufzufangen, werden zurzeit im Rahmen des "nationalen Paktes" von unterschiedlichen Initiativen weitere Formen der Resozialisierung getestet.

Häftlinge strecken ihre Arme durch die Gitter im überfüllten Gefängnis von Itabuna Bundesstaat Bahia. Foto: AG. O GLOBO/ITS PRESS/ dpa
Horror hinter Gittern: Auch das Gefängnis von Itabuna in Bahia ist extrem überbelegtBild: picture alliance / dpa

Im Gefängnis "Santa Rita do Sapucaí" im Bundesstaat Minas Gerais zum Beispiel treten 130 Insassen mehrere Stunden täglich in die Pedale und versorgen dadurch die Straßenlaternen im Zentrum der Stadt mit Strom. Im Hochsicherheitsgefängnis Ariosvaldo de Campos Pires, 160 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro, brachte eine brasilianische Designerin den Häftlingen stricken und Häkeln bei.

In Brasília riefen die Universität, der Gefängnisverbund des Hauptstadtdistrikts und die Nichtregierungsorganisation "Ser Livre" (Frei sein) das Projekt "Offene Türen" ins Leben. Wer mitmachen will, muss jeden Monat ein Buch lesen und darüber eine Rezension verfassen. Auf Grundlage der Texte entscheidet dann eine Jury, um wie viele Tage die Haftstrafe reduziert wird.

Lesen für ein besseres Leben?

Bis jetzt ist die Erfolgsbilanz der Lese-Initiative verhalten: Von den insgesamt 120 Häftlingen aus dem Hauptstadt-Distrikt Brasília lieferten nur zwölf eine Rezension ab. Experten sind darüber nicht verwundert. Warum sollten sich Gefangene für zeitgenössische brasilianische Literatur interessieren, wenn sie noch nicht einmal genügend Trinkwasser haben und nicht wissen, ob sie die Haft überhaupt überleben?

Pfarrer Valdir Joao Silveira von der nationalen Gefängnispastoral hält die Lese-Initiative in vielen Strafvollzugsanstalten Brasiliens für unrealistisch. "Im Gefängnis von Salinópolis in Pará sind Mehrheit der rund 200 Insassen Analphabeten", erklärt der Seelsorger. Die meisten wüssten noch nicht einmal ihr Geburtsdatum und verfügten über keine Ausweispapiere.

Erst Bürgerrechte, dann Bildung lautet die Lektion von Silveira. Denn ohne gültige Ausweispapiere könne sich kein Häftling für die Teilnahme an einem Resozialisierungsprojekt einschreiben.