1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Blumen statt Wunden

Juri Rescheto
8. März 2020

Opfer häuslicher Gewalt in Russland erhalten vom Staat kaum Unterstützung. Umso wichtiger sind private Initiativen. Im russischen Ufa hilft eine junge Tätowiererin den Frauen bei der Verarbeitung. Juri Rescheto, Ufa.

https://p.dw.com/p/3YmYD
Russland Ufa | Tätowiererin Zhenya Zahar
Bild: DW/J. Rescheto

Tattoos gegen Gewalt

Bsss... Die Nadel sticht, dringt ein, hinterlässt eine dunkle Spur in Veronikas Haut. Mit einem Tupfer wird der Rest der Farbe weggewischt. Kurze Pause, dann geht es weiter. Zuerst ist ein Kreis zu sehen, dann noch einer - am Ende wird aus den Kreisen ein Schmetterling.

Die Nadel der Tattoo-Maschine schmerzt, Veronika verzieht ihr Gesicht. Drei Stunden dauert die Behandlung, dann ist die Qual vorüber und die Mittdreißigerin erleichtert. Dieser Schmerz ist nichts im Vergleich dazu, was sie in ihrem Leben schon erleiden musste - durch ihren Ex-Partner.

Russland Ufa | Tätowiererin Zhenya Zahar
Zumindest die körperlichen Narben sollen verschwinden: Gewalt-Opfer Veronika im Tattoo-StudioBild: DW/J. Rescheto

Rückkehr in die Normalität

Veronika, kurz geschnittene Haare, schlanke Figur, liegt auf einer Leder-Trage in einem winzigen Zimmer auf dem Dachboden eines Bürohauses in der Innenstadt von Ufa in Zentralrussland. Die Tattoomaschine bedient Zhenya Zahar, die Besitzerin des Tattoo-Studios. Die beiden jungen Frauen sind in etwa gleich alt und kennen sich schon lange. Veronika zählte zu ihren ersten Kundinnen, eine besondere noch dazu.

"Wiedergeburt" nennt Zhenya Zahar ihr Projekt. Sie tätowiert kostenlos Frauen ihre Narben weg und entfernt damit äußerliche Spuren der Gewalt, die ihnen ihre Partner oder Ehegatten zugefügt haben. Die so genannte häusliche Gewalt ist In Russland ein Riesenproblem. "Wenn die Frauen geschlagen werden, bleiben für immer Narben an ihren Körpern”, sagt Zahar. "Sie haben Angst, dass das jemand sieht. Sie trauen sich nicht, kurze Ärmel zu tragen oder Pullis mit Ausschnitt. Darum ist mein Job, nicht bloß ihre Narben zu verdecken, sondern ihnen zu helfen, wieder normal zu leben.”

Zhenya Zahar Porträt
Hilft den Frauen, Gewalterfahrungen zu verarbeiten: Tätowiererin Zhenya ZaharBild: DW/J. Rescheto

Jede dritte Russin betroffen

Blumen und Schmetterlinge statt Messerstiche und Ritze. Viktoria zeigt ihre Wunde - oder das, was heute noch davon zu sehen ist: "Mein Mann hat mich mit seinem Kumpel in einen Wald geschleppt. Beide waren besoffen. Sie stachen mir in den Hals und unter den Arm.” Veronikas Stimme zittert, Erinnerungen kommen hoch.

Wie viele Frauen in Russland von ihren Partnern zu Hause verprügelt, missbraucht oder sogar getötet werden, darüber gibt es keine genauen Zahlen. Menschenrechtsaktivisten schätzen, dass jede dritte Russin mindestens einmal im Leben Opfer von Gewalt in der Ehe oder in der Partnerschaft wird. Viele von ihnen schweigen - aus Angst vor der Rache der Männer. Und weil sie glauben, dass der Staat sie sowieso nicht schützt.

Staatliches Versagen

Die Polizei winke oft ab, wenn die Opfer sich an sie wenden, erzählt eine andere zierliche Frau in ihrer Küche am Stadtrand von Ufa. Auch sie ist Mitte dreißig, die Haare hinten bescheiden geknotet. Ihren Namen sollen wir lieber nicht nennen. Sie raucht und trinkt schon morgens um elf Bier. Sie weiß, dass das schlecht ist: "Aber ich will mich vergessen. Sonst drehe ich durch." Die Frau in der Küche erzählt, dass sie wieder Probleme mit ihrem Partner hat. Und darüber, was ihr Ex ihr angetan hat. "Mein erster Mann war drogensüchtig. Wenn er im Rausch war, hat er mich mit dem Messer angegriffen, geschlagen, mir die Haare herausgerissen. Das hier ist eine der Wunden von seinem Messer.”

Die tätowierte Frau zeigt auf ihren Bauch, auf eine Stelle neben dem Bauchnabel. Zu sehen ist eine Blume. In der Mitte eine kleine Vertiefung, die man nur beim genauen Hinschauen erkennt. Die Blume hatte ihr ebenfalls Zhenya Zahar tätowiert. Und dann noch viele tanzende Männchen auf dem rechten Unterarm. Wenn man hier genau hinsieht, erkennt man Ritze: "Das war die Hölle. Ich wollte mich umbringen. Ich verstehe nicht, wieso ich das alles ertragen habe. Heute würde ich es nicht mehr tun.” 

Russland | Proteste gegen russischen Gesetz über häuslicher Gewalt
Demonstration gegen häusliche Gewalt in Moskau (2019)Bild: DW/E. Barysheva

Alkohol und Drogen

Die Gründe für die Gewalt gegen Frauen sind vielschichtig. Aber Zhenya Zahar macht nicht nur die einzelnen Paare dafür verantwortlich, sondern auch die russische Gesellschaft, den russischen Staat: "Jedes Mal, wenn die Frauen zu mir kommen, erzählen sie mir das Gleiche. Ihre Partner sind betrunken oder stehen unter Drogen. Viele von ihnen sind arbeitslos und trinken einfach, weil sie nichts zu tun haben. Die häusliche Gewalt blüht in Russland, weil sich hier niemand um diese Menschen kümmert und sie oft in ein tiefes Loch fallen, aus dem sie nur mit Hilfe von Alkohol herauszukommen glauben.”

Als das Tattoo-Projekt "Wiedergeburt” vor vier Jahren in Ufa startete, konnte niemand ahnen, was sich hinter den Fassaden unzähliger Plattenbauten abspielt, wie viele Frauen tatsächlich Zhenya Zahars Hilfe brauchen. Als sich dann in der ersten Woche gleich dreißig Frauen aus der ganzen Region meldeten, wurde der Tätowiererin klar, es wird ihr Lebensziel: den Frauen zu helfen, nicht nur das Trauma zu verdrängen, sondern es auch bewusst zu verarbeiten.

"Hier in meinem Studio erzählen mir die Frauen zum letzten Mal ihre Geschichte. Natürlich bleiben Erinnerungen in ihren Herzen. Das Herz kann man nicht tätowieren. Aber wie heißt es so schön: Aus den Augen, aus dem Sinn. Zumindest werden sie ihre Narben nicht jeden Tag sehen. Und hoffentlich weniger an sie denken.”

Rescheto Juri Kommentarbild App
Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga