Von wegen De-Risking: Deutsche Rekordinvestitionen in China
26. August 2024Im vergangenen Jahr räumte die Bundesregierung ein, dass das Deutschland bei wichtigen Materialien und Komponenten für den Wiederaufbau seiner Industrie nach der Corona-Pandemie zu sehr von China abhängig geworden war.
Inmitten von Klagen über unlauteren Wettbewerb und der Forderung nach einer vollständigen Abkopplung von der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt veröffentlichte Berlin im Juli 2023 sein erstes Strategiepapier zu China. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von der Notwendigkeit, kritische Abhängigkeiten von China künftig zu vermeiden und fügte auf X, ehemals Twitter, hinzu: "Ziel ist es nicht, uns abzukoppeln... Mit der China-Strategie reagieren wir auf ein China, das sich verändert und offensiver auftritt. Für uns gilt: China ist und bleibt Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale."
Dieser Appell scheint jedoch von einigen deutschen Unternehmen ignoriert worden zu sein. Falls diese Firmen im Rest des Jahres genauso viel in China investieren wie in den ersten sechs Monaten des Jahres 2024, würde dies mehr als eine Verdoppelung der Investitionssumme des gesamten vergangenen Jahres bedeuten.
Die chinesische Wirtschaft hat im ersten Halbjahr von deutschen Direktinvestitionen in Höhe von 7,28 Milliarden Euro profitiert, was nach Angaben der Bundesbank fast 13 Prozent über dem Gesamtwert für 2023 liegt.
Deutsche Autobauer widersetzen sich dem Trend
"Die Daten über Investitionen in China sind sehr stark von ausgewählten Branchen wie der Automobilindustrie und der Chemie getrieben", sagt Doris Fischer, Professorin für China Business and Economics an der Universität Würzburg, gegenüber der DW.
Die Geschicke des deutschen Automobilsektors sind eng mit denen Chinas verflochten, wo jedes Jahr rund ein Drittel aller deutschen Neuwagen verkauft werden. Im Jahr 2023 wurden deutsche Fahrzeuge im Wert von 15,1 Milliarden Euro nach China geliefert, während deutsche Automobilzulieferer Teile im Wert von 11,2 Milliarden Euro exportierten, wie Zahlen des Verbands der Automobilindustrie (VDA) zeigen.
Fischer sagt, viele deutsche kleine und mittlere Unternehmen (KMU) verfolgten bereits die so genannte China-plus-eins-Strategie, bei der Firmen ihre Lieferketten diversifizieren, indem sie einen Teil ihrer China-Produktion in andere vielversprechende Schwellenländer wie Vietnam und Thailand verlagern.
Mehr deutsche Firmen planen den Abschied von China
Eine im vergangenen Monat von der Deutschen Handelskammer in China durchgeführte Umfrage ergab, dass zwei Prozent der deutschen Unternehmen ihre China-Aktivitäten veräußern, während sieben Prozent einen solchen Schritt in Erwägung ziehen. Nach diesen Zahlen hat sich die Zahl der Unternehmen, die sich aus China verabschieden oder es vorhaben, seit 2020 verdoppelt.
Allerdings gaben mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen an, dass sie ihre Investitionen in China erhöhen wollen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dazu kommt, dass die Kosten eines De-Riskings offenbar viele Unternehmen abschrecken.
"Die Herausforderung bei der Diversifizierung ist der enorme Investitionsaufwand", sagt Maximilian Butek, Leiter der Delegation der Deutschen Wirtschaft in Shanghai, gegenüber der DW. Er weist darauf hin, dass deutsche Unternehmen auch mit der Suche nach qualifizierten Arbeitskräften, der Bürokratie und dem Rückstand bei der Digitalisierung in diesen neuen Märkten zu kämpfen haben.
In ihrer neuen China-Strategie hat die Bundesregierung kritische Sektoren für die Reduzierung einer übermäßigen Abhängigkeit von China hervorgehoben. Dazu gehören medizinisches Zubehör, Hochtechnologie und die so genannten Seltenen Erden, die für die grüne Transformation unverzichtbar sind. China hat derzeit nahezu ein Monopol auf Seltene Erden.
China-Engagement erinnert an Russland-Abhängigkeit
Deutschland wird vorgeworfen, mit Peking den gleichen Fehler zu machen wie mit Moskau, als es sich zu stark von billigen russischen fossilen Brennstoffen abhängig gemacht hatte. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 drosselte Moskau dann plötzlich seine Öl- und Gaslieferungen und Deutschland musste - wie auch andere europäische Länder - nach alternativen Lieferanten suchen.
Wachsende geopolitische Spannungen mit China in Bezug auf Handel, Menschenrechte, das Südchinesische Meer und Taiwan - das Peking als abtrünnige Provinz sieht, die es notfalls Gewalt zurückerobern will - könnten Europas größte Volkswirtschaft verwundbar machen, falls es zu einem Abbruch der Beziehungen zu Peking kommen würde.
Butek sagt jedoch, der Russland-China-Vergleich sei "wie der Vergleich von Äpfeln und Birnen", weil deutsche Unternehmen viel stärker vom chinesischen Markt abhängig sind als früher vom russischen Markt.
Gleichzeitig Zusammenarbeit und Diversifizierung
Deutsche Unternehmen können einen der größten und am schnellsten wachsenden Auslandsmärkte aber nicht einfach aufgrund zunehmender geopolitischer Probleme links liegen lassen. Große deutsche Hersteller wie Volkswagen, BASF und Siemens betrachten China weiterhin als entscheidend für ihr Wachstum.
Chinas Schwerpunkte auf grüne Technologie, Elektrofahrzeuge und digitale Innovation bieten einen fruchtbaren Boden für weitere Zusammenarbeit und Entwicklung und werden wahrscheinlich weitere ausländische Direktinvestitionen von deutschen Unternehmen anziehen, sagen Wirtschaftsführer.
Als größte Herausforderung für deutsche Unternehmen - insbesondere in der Automobilindustrie und im Maschinenbau - sieht Butek den intensiven Wettbewerb durch chinesische Konkurrenten. Die Unternehmen müssten daher verstärkt in Forschung und Entwicklung (F&E) investieren, um ihren Vorsprung zu sichern.
Auch die ausländischen Direktinvestitionen aus den USA nach China nehmen weiter zu, obwohl sowohl die Trump- als auch die Biden-Administration versucht haben, Chinas wirtschaftlichen Aufstieg durch Handelszölle und andere Strafmaßnahmen zu bremsen.
Nach Angaben des US Bureau of Economic Analysis stiegen die ausländischen Direktinvestitionen der USA in China im vergangenen Jahr um fast 4 Prozent auf 127 Milliarden US-Dollar und sind seit 2018, als der ehemalige US-Präsident Donald Trump seine ersten Zölle auf chinesische Einfuhren ankündigte, um 18 Prozent gestiegen.
Doris Fischer hält es für unfair, Deutschland für etwas verantwortlich zu machen, das auch anderswo, etwa in den USA, passiert. "Ein schneller Rückzug aus dem chinesischen Markt hätte sehr verheerende Auswirkungen auf diese Industrien, was auch für Deutschland nicht gut wäre."
Auslandsinvestitionen nach China brechen ein
Während die Investitionen aus den USA und Deutschland zunehmen, sind die weltweiten ausländischen Direktinvestitionen in China 2023 das zweite Jahr in Folge stark zurückgegangen. Das geht aus Daten des staatlichen chinesischen Devisenamtes hervor, die von der Nachrichtenagentur Bloomberg zitiert werden.
Chinas Verbindlichkeiten aus Direktinvestitionen in seiner Zahlungsbilanz beliefen sich auf 33 Milliarden US-Dollar - ein Rückgang um 80 Prozent gegenüber dem Vorjahr - und waren weniger als ein Zehntel der 344 Milliarden US-Dollar, die 2021 erreicht wurden.
Nachdem die EU nun Zölle in Höhe von 38 Prozent auf chinesische Elektrofahrzeugimporte verhängt hat, ist es nach Ansicht von Butek für deutsche Unternehmen, die in China tätig sind, von entscheidender Bedeutung, dass die EU eine Industriestrategie entwickelt, mit der die Wettbewerbsfähigkeit verbessert und Chinas Expansion abgewehrt werden kann.
"Wir glauben nicht, dass zusätzliche Bürokratie unseren Unternehmen einen Vorteil verschaffen würde. Machen Sie die EU und Deutschland wettbewerbsfähiger, damit mehr Produktion und Forschung und Entwicklung in Europa stattfinden können", fordert der Vertreter der deutschen Wirtschaft in Shanghai.
Der Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.