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Vietnamesen trotz Boom skeptisch

14. Dezember 2016

Seit einem Vierteljahrhundert wächst Vietnams Wirtschaft rapide. Die Menschen haben sich an Wachstumsraten um sechs Prozent gewöhnt. Dennoch schauen viele mit Sorge in die Zukunft oder sind frustriert.

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Vietnam Baustelle in Hanoi
Bild: Getty Images/AFP/H. Dinh Nam

"Wer mit dem Fahrrad oder dem Moped durch Hanoi fährt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in Vietnam wirklich die Post abgeht. Wolkenkratzer, ein Luxusapartment nach dem anderen. Gemessen am Betonverbrauch ist Vietnam ein Senkrechtstarter." So schildert Erwin Schweisshelm, der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Vietnam, den Wirtschaftsboom in dem südostasiatischen Land.

Der Grundstein für Vietnams wirtschaftlichen Erfolg wurde vor 30 Jahren gelegt. Das Land war damals wirtschaftlich am Boden. Planwirtschaft und Missmanagement hatten die nach dem Krieg ohnehin stark angeschlagene Wirtschaft völlig ruiniert. In Teilen des Landes grassierte Hunger. In der Not begannen die Menschen teils illegal und an der Planwirtschaft vorbei eigene Geschäfte zu betreiben. Das führte zu einer ersten Entspannung der Lage.

Auf dem sechsten Plenum der Kommunistischen Partei Vietnams im Dezember 1986 - heute vor 30 Jahren - zog die Politik nach. Die Partei stemmte sich nicht gegen die Entwicklungen und gab der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft mit sozialistischen Merkmalen ihren Segen. Bekannt wurde das Programm unter dem Schlagwort "Doi Moi" (Erneuerung). Es machte den Weg frei für Vietnams wirtschaftlichen Aufstieg. Der eigentliche Boom setzte allerdings erst ein, als in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die Integration Vietnams in die Weltwirtschaft und der Handel mit dem Westen einsetzten.

Unmut trotz Erfolg

Seither wächst die Wirtschaft des Landes, in den vergangenen 25 Jahre im Schnitt um 6,5 Prozent. Für die kommenden beiden Jahre sagt die Weltbank ebenfalls Wachstumsraten von über sechs Prozent voraus. Werte, von denen die meisten Länder der Welt träumen. Dennoch sind viele Vietnamesen skeptisch oder frustriert.

Infografik Wirtschaftsentwicklung Vietnam DEUTSCH
Die Zahlen der letzten Jahre sprechen für sich: Vietnams Wirtschaft wächst.

Das hat zum einen damit zu tun, dass der größte Teil des Wachstums auf die großen staatseigenen Unternehmen entfällt und damit auf einen kleinen Zirkel von Begünstigten. Der vietnamesischen Privatwirtschaft geht es nicht gut. "Wir haben hier gewissermaßen eine gespaltene Wirtschaft", sagt Schweisshelm. Staatseigene, oft auf den Export ausgerichtet Unternehmen auf der einen Seite, einen vietnamesischen Mittelstand, der sich kaum entwickeln kann, auf der anderen Seite.

Der Wirtschaftswissenschaftler und Berater unzähliger Entwicklungsprojekte in Vietnam, Adam Fforde, beschreibt die Lage in Vietnam mit der Metapher des halb vollen bzw. halb leeren Glases. Halb voll ist das Glas laut Fforde, weil die Wirtschaft stark wächst, makroökonomisch relativ stabil ist, die Wechselkurse nicht allzu sehr schwanken und die Zinsen einigermaßen realistisch sind. Halb leer sei das Glas vor allem mit Blick auf die Wirtschaftspolitik. Die Frage laute: "Wie kann die Politik den Kapitalismus zähmen, und hat die Partei, die sehr korrupt ist, dafür überhaupt die Mittel?" "Kapitalismus zähmen" soll heißen: Wie kann die Politik der wirtschaftlichen Entwicklung effektiv Regeln und Gesetze vorschreiben?

Unfairer Wettbewerb

Die Probleme der vietnamesischen Privatwirtschaft rühren unter anderem daher, dass die staatseigenen Unternehmen eng mit der Partei verfilzt sind. Sie genießen Steuervorteile, gelangen leichter an Konzessionen, können Auflagen leichter umgehen und verzerren so den Wettbewerb. "Das System ist viel weniger geordnet, als es den Anschein hat", sagt Fforde. Das zeigt sich unter anderem daran, dass viele von der Zentralregierung verabschiedete Gesetze in den Provinzen und von lokalen Kadern nicht umgesetzt werden, deren Eigeninteressen Reformen oder Regulierungen entgegenstehen.

Infografik BIP Vietnam Bruttoinlandsprodukt DEU
Auch die Zukunftsaussichten Vietnams sind rosig. Das Wachstumsprognosen liegen bei über sechs Prozent.

Doch der Unmut in der Bevölkerung nehme zu, sagt Fforde: "Die Vietnamesen sind mehr und mehr davon überzeugt, dass es viel besser laufen könnte, wenn nur das politische System besser wäre. Wenn die Politiker und die Beamten anständiger, ehrlicher und cleverer wären." Schweisshelm fügt hinzu: "Den Vietnamesen wird zunehmend klar, dass das Wachstumsmodell, wie es momentan vorherrscht, auf Dauer nicht tragfähig ist." Wenn es dem Land nicht gelinge, seine Produktivität zu erhöhen, werde es sich in der sogenannten "Middle-Income-Trap" wiederfinden. Damit wird eine "Falle" für Länder wie Vietnam bezeichnet, die aufgrund steigender Löhne gegenüber anderen Entwicklungsländern nicht konkurrenzfähig bleiben. Zugleich haben solche Länder noch nicht genug Zeit gehabt, um eine moderne Industrie und einen Mittelstand hervorzubringen, der global konkurrieren kann. Sie drohen damit in eine wirtschaftliche Sackgasse, eben jene "Falle" zu geraten.

Stillstand statt Entwicklung

Doch eine höhere Produktivität lässt sich nur mit innovativen Produkten erzielen. Dafür muss das Land mehr Ressourcen in die Ausbildung stecken, um nur einen zentralen Punkt zu benennen. Doch in diesem Feld passiert wenig. Die vietnamesische Regierung konzentriert sich stattdessen auf den Export und um ausländische Direktinvestitionen, wie die Vielzahl an Freihandelsabkommen, die in der letzten Zeit unterzeichnet wurden, belegen. Gleichzeitig verschlingt der riesige Verwaltungs- und Funktionärsapparat finanzielle Ressourcen, die an anderer Stelle schmerzlich fehlen. Vietnam investiert zu wenig in die Zukunft, also in den Mittelstand und die Ausbildung. Von einem mutigen Vorstoß wie vor 30 Jahren ist das Land weit entfern. "Das, was wir momentan sehen, ist nicht Doi Moi 2.0", so Schweisshelms Fazit.

Die Politik wird nach Einschätzung von Fforde nicht aktiver, "weil es wahrscheinlich ist, dass die Wirtschaft trotz des herrschenden Durcheinanders weiter wachsen wird." Außerdem sei anzunehmen, dass die Parteimitglieder, die von dem System profitieren, in einer Art Blase leben. Die Privatwirtschaft kenne die tatsächlichen Probleme, aber die Partei mache sich deren Expertise nicht zunutze.

Die Frage ist also, ob Vietnam rechtzeitig gegengesteuert. Schweisshelm sagt: "Schon bei Doi Moi ist Vietnam den Entwicklungen hinterhergelaufen. Und jetzt ist das auch wieder ein bisschen der Fall." Aber es sei noch nicht zu spät. "Es gibt riesige Herausforderungen, aber ich würde immer noch sagen, dass das Potenzial nach wie vor groß ist."