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Essure-Spirale: Brasilianerinnen gegen Bayer

Nádia Pontes | Ines Eisele
7. August 2021

Über 300 Brasilianerinnen klagen über schwere Gesundheitsschäden durch die Verhütungsspirale Essure. Sie leiden unter Schmerzen, Verletzungen oder Depressionen. Vom deutschen Hersteller Bayer fordern sie Schadensersatz.

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Bayer Verhütungsmittel Essure
Bild: AP Photo/picture alliance

In den letzten vier Jahren hat sich Mônica - die ihren Nachnamen lieber nicht in Medien lesen will - dem Sammeln von Leidengeschichten wie der ihren gewidmet. Es geht um Geschichten von Frauen aus ganz Brasilien, deren Leben sich durch die Essure-Spirale des deutschen Bayer-Konzerns dramatisch verändert hat.

Brasilianerinnen, die auf dieses eigentlich als komplikationslos geltende Verhütungsmittel gesetzt haben, berichten von Rissen und Verletzungen in Gebärmutter und Eileitern, dem Verrutschen der Spirale, Bauchhöhlen- oder Eileiterschwangerschaften, Schmerzen, Blutungen, Allergien, Ohnmachtsanfällen und psychischen Beeinträchtigungen wie Angstzuständen, Depressionen und sogar Selbstmordgedanken.

Eine Website, die Mônica 2017 zum Austausch von Erfahrungsberichten ins Leben rief, hat viele solcher Frauen zusammengeführt. Nun fordern sie Wiedergutmachung vom Chemie- und Pharmariesen Bayer: Im Rahmen einer außergerichtlichen Einigung wollen 334 Brasilianerinnen Schadensersatz und Wiedergutmachung für das, was sie erlitten haben.

Mutterkonzern soll zur Rechenschaft gezogen werden

Der Rechtsstreit spielt sich nicht etwa in Brasilien ab, sondern in Deutschland. Die multinationale Anwaltskanzlei PGMBM vertritt die Geschädigten und hat sich dafür mit der deutschen Kanzlei Manner Spangenberg zusammengetan - die das entsprechende Schreiben direkt an die Bayer AG in Leverkusen schickte. Jurist Jan Spangenberg erklärt: "Die Bayer AG hat natürlich, wie bei internationalen Großkonzernen üblich, nicht nur eine juristische Gesellschaft, sondern unterschiedliche Ländergesellschaften, die an der Entwicklung und Vermarktung von Essure beteiligt waren." Aber entscheidend sei eben das Vertrauen der Mandantinnen in den deutschen Mutterkonzern gewesen, er trage letzten Endes die Verantwortung.

Siegauen-Vergewaltiger Prozess in Köln
Das Landgericht Köln wäre im Falle eines Verfahrens gegen Bayer zuständigBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance

Da Bayer seinen Hauptsitz in Leverkusen hat, könnte das Unternehmen dort verklagt werden - die originäre gerichtliche Zuständigkeit liegt stets am Firmensitz. Ein weiterer Vorteil eines Rechtsstreits in Deutschland ist, wie Spangenberg erklärt, das schnellere und effizientere Justizsystem im Vergleich zu Brasilien.

Gleiches Recht für alle Geschädigten?

In den USA hat sich Bayer bereits vergangenes Jahr auf einen Milliardenvergleich geeinigt und damit nach eigenen Angaben etwa 90 Prozent der insgesamt fast 39.000 dortigen Essure-Klagen beigelegt. Denn in den USA wird Verbraucherschutz bekanntermaßen großgeschrieben: Wenn Menschen dort massenhaft von fehlerhaften Produkten betroffen sind, können sie ihre Rechte in Sammelklagen durchsetzen.

Die 334 Brasilianerinnen fordern nun ähnliche Entschädigungssummen, wie sie die US-Amerikanerinnen erhalten haben - insgesamt ginge es dann für Bayer um 30,3 Millionen Euro. Mônica erklärt: "Kein Geld der Welt wird kompensieren können, was wir durchgemacht haben und noch durchmachen. Aber wir haben das Recht auf ein bisschen Ruhe, damit wir uns um uns selbst kümmern können."

Wenn der Wunsch nach Sterilisation zur Tortur wird

Essure wurde im Jahr 2002 auf den Markt gebracht und bald darauf in Teilen Europas und den Vereinigten Staaten eingeführt. Auch in Deutschland war das Bayer-Produkt zeitweise erhältlich, doch es wurde wenig beworben und kam kaum zum Einsatz - was wohl erklärt, warum bislang keine deutschen Klägerinnen bekannt sind. Aber in den Niederlanden und in Großbritannien vertritt PGMBM ebenfalls Essure-Geschädigte.

Besonders ist, dass Essure zum dauerhaften Verbleib im Unterleib gedacht ist, und nicht wie die meisten anderen Spiralen nach einigen Jahren wieder entfernt werden kann oder muss. Die Essure-Spirale ist etwa vier Zentimeter lang und etwas dicker als ein Haar. Sie besteht aus Nickel-Titan-Federn, rostfreiem Stahl, Polyethylenterephthalat-Fasern (PET), Platin, Silber und Zinn. Sie wird durch den Scheidenkanal in die Eileiter eingeführt, die die Eizellen zur Gebärmutter transportieren. Essure regt dort die Bildung von Gewebe an, so dass sich eine Barriere bildet, die verhindert, dass Spermien die Eizellen erreichen. 

Weil die Einsetzung keine Operation erfordert und ambulant durchgeführt werden kann, hat Essure mancherorts recht viel Anklang gefunden, vor allem in den USA.

Symbolbild I Ärzte im Operationssaal
In Essure sahen viele Betroffene einen nichtinvasiven und risikoarmen Weg der Strerilisation Bild: Vincent Hazat/PhotoAlto/picture alliance

In Brasilien erteilte die nationale Behörde für Gesundheitsüberwachung ANVISA 2009 die Zulassung. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurde Essure zwar nicht kostenlos über das staatliche Gesundheitssystem (SUS) eingesetzt, jedoch von einigen Bundesstaaten erworben und in öffentlichen Krankenhäusern zur Verfügung gestellt. PGMBM geht von insgesamt etwa 8000 Essure-Spiralen in Brasilien aus.

Letzter Ausweg: Entfernung der Gebärmutter

Mônica wurde die Sterilisationsspirale 2015 in São Paulo eingesetzt, nachdem sie schon vier Kinder bekommen hatte. Monate später spürte sie starke Schmerzen im Kopf, im Becken, im unteren Rücken und in den Beinen. Sie litt unter Haarausfall, Flecken am Körper und unter Depressionen, wie sie erzählt.

Als sie 2017 erfuhr, dass ANVISA die Zulassung in Brasilien überprüfte, läuteten ihre Alarmglocken. Mônica suchte im Internet nach Informationen und stieß so auf die Fälle durch Essure geschädigter Frauen in den Vereinigen Staaten. "Ich fand heraus, dass ich dieses Gerät, das meinen Körper mit Nickel kontaminiert hatte, nur durch eine Hysterektomie, eine Entfernung der Gebärmutter, loswerden konnte", erzählt Mônica, die sich noch im selben Jahr dieser Prozedur unterzog.

Sie kann es immer noch nicht fassen: "Ich wollte doch nur keine Kinder mehr bekommen. Und ehe ich mich versah, habe ich Unglück über mein Leben gebracht." Noch heute leidet die mittlerweile 43-Jährige unter chronischen Schmerzen. 

Sind die Risiken größer als angegeben?

Auch der 34-jährigen Rosa ist es schlimm ergangen. Die Mutter eines Sechsjährigen musste sich die Gebärmutter entfernen lassen, nachdem eine Operation zur Entfernung von Essure fehlgeschlagen war. Sie hatte die Spirale wegen schlimmer Nebenwirkungen loswerden wollen, in deren Folge sie sogar ihren Job im Marketing verlor. "Ich habe das Gefühl, dass mir alles genommen wurde", sagt Rosa heute, die bereits psychologische Unterstützung in Anspruch genommen hat.

Von den Ärzten und dem Gesundheitssystem habe sie sich nicht ausreichend unterstützt und informiert gefühlt, so Rosa. Ähnlich sei es wohl auch vielen anderen betroffenen Brasilianerinnen ergangen, die oft ein niedriges Bildungsniveau hätten und in prekären Verhältnissen leben würden. 

Bayer Verhütungsmittel Essure
Das Bayer-Logo am Werk in Wuppertal - in Brasilien warb der Konzern unter anderem mit "Wenn es Bayer ist, ist es gut"Bild: Oliver Berg/dpa/picture alliance

Die von PGMBM und Manner Spangenberg vertretenen Brasilianerinnen werfen Bayer vor, falsch über die Nebenwirkungen von Essure informiert zu haben sowie das Produkt trotz offenkundiger Gesundheitsrisiken lange nicht zurückgerufen zu haben. "Nach unseren Erkenntnissen ist die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen viel höher als damals angegeben", führt Anwalt Jan Spangenberg aus.

In Brasilien sei damit geworben worden, dass es nur in 0,05 Prozent der Fälle zu Nebenwirkungen wie Infektionen oder Organverletzungen käme. Dabei hätten alleine von den 334 Mandantinnen 200 Infektionen erlitten. In den USA erhielt die Aufsichtsbehörde FDA fast 64.000 Beschwerden von Patientinnen, die von Nebenwirkungen wie Schmerzen, inneren Verletzungen, Depressionen und Haarausfall berichteten.

Bayer glaubt an Produktsicherheit 

Auf das Anwaltsschreiben hat Bayer mittlerweile geantwortet - einen Tag vor dem Ablauf der Frist am 6. August. Anwälte des Pharmariesen teilten mit, man werde den Sachverhalt prüfen und sich in angemessener Frist wieder melden. Eine recht vage Antwort, doch immerhin habe Bayer die Forderungen nicht sofort von sich gewiesen, findet Jan Spangenberg. Nun müsse man weiterschauen, ob es ähnlich wie in den USA zu einer außergerichtlichen Einigung komme oder doch noch zu einem Gerichtsverfahren.

Auf DW-Anfrage erklärt Bayer, man befinde sich auch anderweitig gegenwärtig "in einer geringen Anzahl von Ländern in Essure-Rechtsstreitigkeiten". Der Konzern spricht von großem "Mitgefühl für alle, die während der Verwendung eines unserer Produkte gesundheitliche Probleme hatten, unabhängig von deren Ursache". Man sei jedoch weiterhin von der Sicherheit und Wirksamkeit von Essure überzeugt, "die durch umfangreiche Forschungsarbeiten von Bayer und unabhängigen medizinischen Forschern unter Beteiligung von mehr als 270.000 Frauen in den letzten zwei Jahrzehnten belegt wird".

Dennoch hat Bayer den Verkauf des Produkts vor einigen Jahren nach und nach eingestellt - freiwillig, wie der Konzern betont, aufgrund eines Rückgangs der Verkäufe. Allerdings ist auf den Seiten des brasilianischen Gesundheitsministeriums nachzulesen, dass die Gesundheitsbehörde ANVISA die Vermarktung untersagte - zumindest nicht überall ist der Verkaufsstopp also freiwillig erfolgt. Unabhängig davon gibt es noch Frauen, die diese Spirale weiterhin im Körper haben.

DW Fact Checking-Team | Ines Eisele
Ines Eisele Faktencheckerin, Redakteurin und AutorinInesEis