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Politik

Hunger in Indien

Das Gespräch führte Dennis Stute17. Oktober 2008

In Indien herrscht eine dramatische Lebensmittelknappheit. Im DW-WORLD-Interview nennt die indische Nobelpreisträgerin Vandana Shiva Ursachen, Schuldige und mögliche Auswege aus der aktuellen Nahrungsmittelkrise.

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Vandana Shiva (Quelle: dpa)
Verordnet Indien ein neues Landwirtschaftsmodell: Vandana ShivaBild: picture alliance/dpa

DW-WORLD.DE: Nach einem neuen Bericht herrscht in zwölf indischen Staaten ein "alarmierendes" Hungerproblem. In den verbleibenden fünf wird die Lage als "ernst" eingestuft. Was ist der Grund für die ausgedehnte Mangelernährung?

Vandana Shiva: Es gibt klare Gründe, warum sich Indien zu einem Brennpunkt des Hungers entwickelt hat. Einer ist das Landwirtschaftsmodell, das im Namen der "Grünen Revolution" eingeführt wurde: Was als Lösung des Hungerproblems gedacht war, hat das Problem aber verschärft, indem es Monokulturen geschaffen hat, in denen Reis und Weizen andere Nahrungsmittel verdrängten. Der zweite Grund steht natürlich mit dem Kurs der Politik seit 1991 in Beziehung, die eine Liberalisierung des Handels vorantrieb: Anstatt die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, hat man den Export von Agrarprodukten in reiche Länder gefördert und so die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln zerstört. Diese Politik wurde von der Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO) vorangetrieben und von unserem damaligen Finanz- und jetzigen Premierminister Manmohan Singh umgesetzt. Das Thema Lebensmittel wurde auf Eis gelegt und man tat so, als müsse sich die Politik nicht darum kümmern. Heute leidet Indien unter der verfehlten Agrarproduktion, an der die "Grüne Revolution" und die Gentechnik schuld sind. Hinzu kommen die Fehler des Modells eines "unfreien Handels", der leider "freier Handel" genannt wird.

Wie hat sich die Nahrungsmittelkrise auf Indien ausgewirkt?

Die Nahrungsmittelkrise hat Indien sehr schwer getroffen, weil sich die Preise für Grundnahrungsmittel im letzten Jahr verdoppelt haben. Das hat dazu geführt, dass die Armen, die ohnehin nur halb so viel essen, wie sie sollten, sich nun nur noch ein Viertel der notwendigen Lebensmittelmenge leisten können. Leider sind es auch die Armen, die ihren Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit bestreiten müssen. Was wir also im Grunde genommen tun, ist sie ihrer Fähigkeit berauben, sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Wenn außerdem Kinder unterernährt sind und nicht genug zu essen haben oder eine Mutter unterernährt ist und wiederum ein unterernährtes Baby zur Welt bringt, dann schaffen wir Generationen die weder physisch, noch psychisch wirklich gesund sind.

Während der letzten Jahre ist die Wirtschaft jedes Jahr um 8 Prozent gewachsen. Im Westen wird Indien als boomendes Land und zukünftige Supermacht wahrgenommen. Wie passt das mit den jüngsten Statistiken zusammen?

Ich glaube nicht, dass wir zu weit in die Zukunft blicken müssen, um zu erkennen, dass Wachstum auch erfunden sein kann. Schauen Sie nur, wie die Märkte an der Wall Street kollabierten. Aber ein sehr wichtiger Punkt ist: Nicht wirtschaftlicher Aufschwung löst Armut, denn wirtschaftlicher Aufschwung basiert oft auf Kosten der Armen. Ein Beispiel: Die umfangreiche Übertragung von Land an Unternehmen ist eine Hauptursache für Nahrungsmittelunterversorgung und steigende Armut. So wird in umfangreichem Maße von Australien, Deutschland, England oder den USA in indischen Stammesgebieten Bergbau betrieben. Ich habe das "Outsourcing" von Umweltverschmutzung genannt und das kann zu Wachstum in der Finanzwelt führen und gleichzeitig die Armut in der Bevölkerung steigen lassen.

Man hat viel über einen Trickle-down-Effekt gesprochen, wonach die Armen von dem wirtschaftlichen Wachstum eventuell profitieren könnten. Wie schätzen Sie diesen Effekt ein?

Ich denke der Grundgedanke des Trickle-down ist falsch, denn Wirtschaft existiert auf verschiedenen Ebenen. Da ist zum einen die Wirtschaft, die auf der Natur basiert: Äcker, Wälder, Fischerei und Meer. Diese ist es, die den Menschen eine Lebensgrundlage bietet und von Hunger und Armut befreit. Dann gibt es die Wirtschaft für das Volk, wo die Existenz gesichert ist und Nahrung, Gesundheit und Wohnung garantiert sind. Diese Wirtschaft des Lebensunterhalts wurde durch Privatisierung beschädigt. Die Garantie auf Wasser und Elektrizität wurden weggenommen und den Märkten unterworfen, zu denen die Armen keinen Zugang haben. Die dritte Wirtschaftsform ist die Marktwirtschaft, die heute jedoch zweigeteilt ist: die Realwirtschaft und die fiktive Finanzwirtschaft, die siebzig Mal größer als die Realwirtschaft ist. So kann es eine Inflation des Wachstums geben, aber keinen Trickle-down-Effekt, denn das Wachstum liegt in den Händen der neuen Milliardäre, die ihr Geld auf Kosten der einfachen Inder verdient haben. In einer Situation, in der man einfachen Leuten ihre Real-Ressourcen raubt, kann es nicht zu einem Trickle-down kommen.

Laut offiziellen Angaben, haben in den vergangenen zehn Jahren 140.000 Bauern Selbstmord begangen. Warum ist deren Situation so hoffnungslos?

Die Selbstmorde begannen 1997, als die Auswirkungen der neuen Liberalisierungspolitik auch im Agrarsektor spürbar wurden und Unternehmen wie Monsanto in den Markt drängten und begannen genmanipuliertes, nicht erneuerbares, hybrides Saatgut zu verkaufen. Diese Saat braucht mehr Wasser. Bauern mussten daher in entsprechende Bewässerungssysteme investieren. Außerdem waren die Pflanzen anfällig für Schädlinge, sodass die Bauern auch Geld für Pestizide ausgeben mussten. Die Bauern machten Schulden. Mittlerweile haben sich diese Kulturen nicht bewährt. Aufgrund der Globalisierung wurden Fördermittel in Höhe von vier Milliarden Dollar in US-amerikanische Baumwollhandel-Unternehmen gesteckt, die die Preise im indischen Markt drücken: Der Baumwollpreis fiel auf ein Drittel von dem, was er früher war. Fallende Produktpreise und steigende Produktionskosten trieben die Bauern in Schulden. Das alles ist eng mit Globalisierung verbunden.

Die Ernährungslage ist besonders in Madhya Pradesh schlecht – was macht dieser Staat noch schlechter als die anderen?

Die zwei Gründe, warum Madhya Pradesh stärker als andere Bundesstaaten betroffen ist, sind die Tatsachen, dass es einerseits ein Waldstaat, andererseits ein Stammesstaat ist: Der Wald ernährte die Stämme. Bergbau und Industrialisierung nehmen jedoch den Stämmen ihre Nahrungsquellen. Außerdem macht sich in dem Staat, die durch den Klimawandel bedingte Dürre stark bemerkbar. Im Bundelkhan-Gebiet herrscht seit vier Jahren Dürre; genauso lange regnet es schon zu wenig. Hier wurde überhaupt nichts angebaut. Und das ist unter anderem so, weil das Landwirtschaftsmodell mit Chemikalien arbeitet und mit neuem Saatgut, das wiederum Chemikalien zum wachsen braucht. Aber das ist das Dümmste, was man in Zeiten des Klimawandels tun kann, denn Klimawandel erfordert eine Anpassung an die Dürre, was bedeutet, dass die Ernte dürreresistent sein muss. Außerdem sollte man nur natürlichen Dünger benutzen, da dieser zehnmal mehr Flüssigkeit im Boden speichert. Aber leider hat die Regierung – von internationalen Organisationen wie der Weltbank angetrieben – einen falschen Weg beschritten und geht auf diesem in eine Zukunft von unbeständigen Märkten und unsicherem Klima. Die Vermischung dieser beiden ist ein Rezept für Hungersnöte. Wir müssen unser Augenmerk verschieben – weg von globalem Handel und Ernteexporten, hin zu einem Sicherstellen einer Nahrungsmittelversorgung unserer Bevölkerung.

Als der Kongress in den frühen 90er Jahren liberalisierte, wurde er von der hindu-nationalistischen BJP kritisiert. Als die BJP an die Macht kam, erhöhte sie das Tempo der Liberalisierung noch und wurde seinerseits vom Kongress kritisiert, der momentan wieder einen Weg von Deregulierung und Liberalisierung geht. Hat die indische Regierung eine Alternative?

Viele Regierungen beteiligen sich durch Im- und Exporte an Spekulationen auf dem globalen Lebensmittelmarkt und mischen sich in Bankgeschäfte ein: Sie retteten und nationalisierten Banken. Dabei hat jede Regierung eine Alternative. Diese Illusion, dass es keine gebe und Regierungen nicht eingreifen könnten, um die Rechte der Bevölkerung zu verteidigen, ist eine steinzeitliche Annahme, die man vergessen sollte. Wir brauchen eine neue Diskussion über die Verantwortung der Staaten für die Öffentlichkeit. Das eigentliche Problem ist, dass der Grund dafür, dass Staaten bereitwillig dem Druck der Weltbank und der WTO nachgeben, in individuellen Interessen von Politikern zu suchen ist. Und das passiert in Deutschland genauso wie in Indien. Die Staaten müssen aus der Umklammerung der Unternehmen ausbrechen und sich in echte demokratische Staaten verwandeln. Demokratische Staaten werden Alternativen haben.

Welche sind die dringendsten Schritte, die nun zur Bekämpfung des Hungerproblems unternommen werden müssen?

Ich denke am notwendigsten ist eine Modernisierung des Landwirtschaftssystems. Jeder Gedanke an eine industrielle Landwirtschaft ist falsch, denn diese bringt nicht mehr Nahrungsmittel hervor. Inzwischen haben wir ökologische Landwirtschaftsmodelle entwickelt, die, abhängig von den klimatischen Bedingungen, bis zu zehnmal mehr Nahrung produzieren können. Diese Art von Modellen kann das Hungerproblem lösen. Zweitens muss man sich auf eine Politik zurückbesinnen, die das Nahrungsmittelproblem an die erste Stelle stellt. Bis jetzt hatten wir in Indien seit der Unabhängigkeit kein Hungerproblem; 1942 hatten wir eine Hungersnot, der zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Damals hatten wir allerdings genug Nahrungsmittel, nur haben die Briten jedes bisschen Reis exportiert – um den Krieg finanzieren zu können. Diese Hungersnot wurde durch die richtige Politik besiegt, die das Nahrungsmittelproblem fokussierte, ein Verteilungssystem einführte und jedem ein Recht auf gute, bezahlbare Nahrung zusicherte. Diese Politik wurde von der Weltbank zunichte gemacht und muss wiederbelebt werden. Die Bauern müssen einen angemessenen Preis für das bekommen, was sie anbauen und die Armen müssen Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen bekommen. Außerdem muss man aufhören, globale Konzerne zu unterstützt, indem man Weizen für 16.000 Rupien pro Tonne importiert. Stattdessen sollte die Regierung Weizen billiger von indischen Landwirten kaufen – besonders von Öko-Bauern. So würden wir unseren Staatshaushalt regulieren und wir würden mehr Lebensmittel zu geringeren Preisen haben. Wir könnten Produktionskosten senken, Ackererträge steigern und eine gerechtere Verteilung realisieren. Das wäre Lebensmittelunabhängigkeit und eine Sicherung der Lebensmittelversorgung.