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PolitikUngarn

Ungarn in der Ukraine: "Wir sind keine Separatisten"

Keno Verseck (aus Berehowe)
19. April 2024

Die Angehörigen der ungarischen Minderheit in der westukrainischen Region Transkarpatien sind im schwierigen ukrainisch-ungarischen Verhältnis zwischen die Fronten geraten. Wie leben sie, was denken sie? Ein Ortsbesuch.

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Fußgängerzone mit Menschen und Bäumen
Straßenszene in Berehowe, im Hintergrund das städtische Kulturhaus mit einer zweisprachigen, ukrainisch-ungarischen Inschrift Bild: Keno Verseck/DW

Berehowe ist ein beschauliches Städtchen im äußersten Westen der Ukraine, nur sieben Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt. Vom russischen Krieg gegen die Ukraine ist hier nur wenig zu spüren. Luftalarm ertönt nur selten, Drohnen- oder Raketenangriffe auf die Stadt und das Umland gab es bisher im Städtchen nicht. Nur ein Denkmal im Zentrum erinnert an zwei Dutzend Männer von hier, die im Kampf gegen die russische Aggression starben, irgendwo im Osten des Landes.

An einem kühlen Frühjahrstag trinken an einem Stehtisch vor der Konditorei Parisel im Zentrum des Ortes einige Menschen Kaffee und unterhalten sich auf Ungarisch. Sie gehören zur ungarischen Minderheit in der Region, hier in Berehowe sind etwa die Hälfte der 23.000 Einwohner Ungarn. Einer in der Gruppe vor dem Café ist ein Mittvierziger, gekleidet in eine Armeeuniform. Er dient als Soldat bei einer regionalen Freiwilligen-Einheit.

Denkmal mit Fotos von toten Männern, links eine ukrainische, rechts eine ungarische Fahne
Denkmal für Soldaten aus Berehowe, die im Kampf gegen die russische Aggression starbenBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Bei der Frage, wie er sich als Ungar in der Ukraine fühle, wird sein Blick ernst. "Wir gehören nirgends richtig dazu", klagt er. "Hier stempeln uns die Ukrainer als Ungarn ab, dort drüben, in Ungarn, gelten wir als Ukrainer oder Russen." Er hält einen Augenblick inne. Dann sagt er: "Aber wir Ungarn hier in Transkarpatien halten zusammen. Dies ist unsere Heimat und die Heimat unserer Vorfahren."

Unruheherd Transkarpatien

Transkarpatien - so heißt die westukrainische Region, in der auch Berehowe liegt. Traditionell leben hier viele Nationalitäten zusammen, neben Ukrainern, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Mehrheit ausmachen, auch Ungarn, Rumänen, Slowaken, Polen und Roma. Derzeit wohnen in Transkarpatien rund 1,3 Millionen Menschen. Laut der letzten Volkszählung von 2001 gab es in der Region 150.000 Ungarn, inzwischen dürfte ihre Zahl jedoch unter 100.000 liegen.

Seit einigen Jahren gerät Transkarpatien immer stärker in die politischen Schlagzeilen in der Ukraine und in Ungarn. Ausgangspunkt waren Änderungen im ukrainischen Bildungsgesetz seit 2017, denen zufolge der muttersprachliche Unterricht für Minderheiten in der Mittel- und Oberstufe eingeschränkt werden sollte. Umgesetzt wurden die Bestimmungen nie, sorgten jedoch für große Unruhe unter der ungarischen Minderheit und auch in Ungarn selbst.

Der ungarische Premier Viktor Orban nutzt das Thema schon seit Jahren für eine immer schärfere antiukrainische Rhetorik. Glaubt man ihm und der regierungsnahen Propaganda in Ungarn, dann leiden die Minderheiten-Ungarn in Transkarpatien inzwischen unter schwerwiegender politischer Verfolgung und kultureller Vernichtung durch den ukrainischen Staat.

In der Ukraine wiederum gilt Transkarpatien seit einigen Jahren als Unruheherd - als Gegend, in der sich separatistische Szenarien wie 2014 in der Ostukraine oder auf der Krim womöglich wiederholen könnten.

Mal Beklemmung, mal Gleichmut

In Berehowe merkt man von Spannungen auf den ersten Blick nichts. Überall in der Stadt gibt es zweisprachige Inschriften, viele Straßen tragen die Namen ungarischer Persönlichkeiten, allenthalben sprechen Menschen ohne Scheu Ungarisch.

Schwer zu sagen, was unter der Oberfläche liegt. In Gesprächen mit Ungarn auf der Straße spürt man mal Beklemmung, mal Gleichmut. Auf dem Markt von Berehowe, auf dem es von Lebensmitteln über chinesisches Billig-Allerlei bis hin zu verrosteten alten Schrauben so gut wie alles gibt, steht eine Ungarin, Mitte vierzig, neben einem Verkaufsstand für Socken und erzählt, dass ihr Mann nach Kriegsbeginn 2022 "wegen der Situation ins Ausland" gegangen sei. Sie will nicht sagen, wo er ist, nur so viel, dass sie mit ihren Kindern regelmäßig "dorthin" fahre und dass das Familienleben "nicht einfach" sei jetzt während des Kriegs. Dann eilt sie davon.

Zwei Männer mit Tüten in der Hand auf einem Markt mit Ständen
Szene auf dem Markt von Berehowe, wo Waren an kleinen Ständen verkauft werdenBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Zwei Männer, beide Ende fünfzig, die Toiletten- und Hygieneartikel anbieten, beschweren sich darüber, dass sie als Ungarn schlecht angesehen werden würden, wenn sie ihre Muttersprache sprächen. Ein paar Schritte weiter erzählt eine ungarische Rentnerin, die Wurst, Käse, Öl, Zucker, Mehl und andere Grundnahrungsmittel verkauft, genau das Gegenteil: Es gebe keine Diskriminierung von Minderheiten, viele Ungarn würden einfach nicht gut Ukrainisch sprechen, das sei das Problem.

"Feindbild von den Ungarn"

So gemischt das Bild ist, wenn man die Leute auf der Straße fragt, so klar stellt sich die Situation für Karolina Darcsi dar. Sie ist Stadtratsabgeordnete von Berehowe und politische Sekretärin des Kulturverbandes der Ungarn in Transkarpatien (KMKSZ), einer Organisation, die der Partei Fidesz des ungarischen Premiers Viktor Orban nahesteht. Das öffentliche Image der Ungarn in der Ukraine sei sehr negativ, es gebe viel Diskriminierung, klagt Darcsi. Die ukrainischen Medien verbreiteten ein "Feindbild von den Ungarn", und das werde "von oben", von der ukrainischen Politik, gefördert.

Im Dezember 2023 stimmte das ukrainische Parlament auf Empfehlung von EU-Gremien für eine Rücknahme restriktiver Bestimmungen zum Schulunterricht in Minderheitensprachen - damit wurde eine wesentliche Forderung von Vertretern der ungarischen und anderer Minderheiten in der Ukraine erfüllt. Künftig werden an Schulen nur noch die Fächer Ukrainische Sprache und Ukrainische Literatur sowie das Fach Nationale Verteidigung auf Ukrainisch unterrichtet. Karolina Darcsi sieht das als positive Entwicklung an. "Aber das kann erst der Anfang sein", sagt sie. "Es gibt noch viel umzusetzen." Als Beispiel nennt sie eine Verbesserung des Ukrainisch-Unterrichts für Minderheiten-Schüler.

"Gute Zukunft in europäischer Ukraine"

Deutlich versöhnlicher äußert sich ein anderer politischer Vertreter der ungarischen Minderheit - Laszlo Zubanics, der Vorsitzende des Demokratischen Verbands der Ungarn in der Ukraine (UMDSZ). Er möchte keinerlei Vorwürfe an irgendeine Adresse erheben, sondern formuliert vermittelnd. Er sagt Sätze wie den, dass die Ungarn in Transkarpatien der ukrainischen Öffentlichkeit seit Kriegsbeginn mit vielen humanitären Hilfsaktionen gezeigt hätten, dass sie kein abgesonderter Bevölkerungsteil seien.

Laszlo Zubanics steht vor Gemälden und schaut in die Kamera
Laszlo Zubanics, Präsident des Demokratischen Verbandes der Ungarn in der Ukraine (UMDSZ)Bild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Zubanics war Ende 2023 einer der Initiatoren eines offenen Briefes an den ungarischen Premier Viktor Orban. Darin baten mehrere politische Vertreter der Ungarn Transkarpatiens den Budapester Regierungschef, die EU-Integration der Ukraine zu unterstützen. Es war eine höflich verpackte Kritik an Orbans Blockade- und Veto-Politik gegenüber der Ukraine. Die Rücknahme der restriktiven Bestimmungen im Bildungsgesetz sieht Zubanics als "Richtungswechsel" der Ukraine. "Ich denke, dass die Ukraine damit einen Schritt auf ihrem europäischen Weg macht", sagt der UMDSZ-Vorsitzende. "Wir Ungarn sehen eine gute Zukunft für uns in dieser europäischen Ukraine."

"Wir wollen leben wie in Europa"

Der ukrainische Politologe Dmytro Tushanskyj, der in der westukrainischen Stadt Uschhorod das Institut für Mitteleuropäische Strategie (ICES) leitet, glaubt, dass der ukrainische Staat Minderheiten wie den Ungarn zu wenig Aufmerksamkeit schenke. "Unsere Staatsvertreter sollten öfter betonen, dass sie die hiesigen Ungarn als loyale Staatsbürger betrachten", sagt Tushanskyj. "Und sie sollten alles tun, damit die Ungarn sich hier wohl und glücklich fühlen."

 Dmytro Tushanskyj
Der ukrainische Politologe Dmytro TushanskyjBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Verunsicherung und Erleichterung - ungefähr so scheint die Stimmung am Lajos-Kossuth-Gymnasium in Berehowe zu sein, einer der traditionsreichsten Bildungseinrichtungen der ungarischen Minderheit in Transkarpatien. Stolz zeigt die Direktorin, Emese Zseltvay-Vezsdel, eine Tafel mit prominenten Besuchern der Schule. Darunter ist auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, er war im Sommer 2023 in Berehowe. Zseltvay-Vezsdel möchte sich zu politischen Fragen nicht äußern, betont aber, dass es "im Alltag keinerlei Probleme zwischen Ungarn und Ukrainern" gebe. Es sei "eine große Freude", dass der ukrainische Staat den muttersprachlichen Unterricht nun garantiere.

Ihre Kollegin Edit Babjak, die im Stadtrat von Berehowe die Abteilung für Bildung und Kultur leitet, hat weniger Befürchtungen, sich zu äußern. "Oft heißt es, dass wir auch so ein Szenario wollen würden wie die Separatisten im Osten der Ukraine. Das tut weh, denn wir sind nicht so", sagt sie. "Es gibt hier keine separatistische Stimmung, und wir wollen auch nicht unter russischen Verhältnissen leben, sondern wie in Europa."

Porträt eines lächelnden Mannes mit Brille und blonden Locken
Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter