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Unbekannte Seiten begnadeter Musiker

Gaby Reucher
11. Dezember 2020

Glenn Gould, Pierre Boulez, Anne Sophie Mutter: Musikgrößen der Welt haben Autor Felix Schmidt ihre Seele offenbart und gewähren einen Blick hinter die Kulissen.

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Noten liegen auf einem Pult.
Bild: Imago/G. Alabiso

Auch so kann man sich die Zeit während der Corona-Pandemie vertreiben: Indem man ein Buch über die Musikgrößen des 21. Jahrhunderts schreibt. "Als die erste Welle kam, dachte ich, 'oh Gott, jetzt muss ich zu Hause bleiben und mich verhalten wie ein Rentner, das ist ja schrecklich'", erklärt der Musikjournalist Felix Schmidt im Gespräch mit der DW. Mit 86 Jahren gehört er zur Corona-Risikogruppe. Freunde rieten ihm, seine Musikerportraits, Interviews und Essays zu überarbeiten und daraus etwas Neues zu machen.

Begegnungen zwischen zwei Buchdeckeln

Entstanden ist ein Buch über Schmidts Begegnungen mit Musikgrößen von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute. Der Titel: "Gotteskinder und Störenfriede - Das Spiel und die Weisheit begnadeter Musiker". Als Gotteskind bezeichnete sich der Komponist und Urvater der elektronischen Musik Karlheinz Stockhausen, als "enfant terrible" ging der Komponist und Dirigent Pierre Boulez in die Musikgeschichte ein. Ob Herbert von Karajan, der russische Cellist Mstislaw Rostropowitsch, der begnadete Pianist Glenn Gould, die Geigerin Anne-Sophie Mutter oder Leonard Bernstein: Felix Schmidt hat sie alle interviewt.

Als Herbert von Karajan die Dessous versteckte

Über seine vielen Gespräche mit den Größen der Musikwelt hat er nicht nur ein Buch geschrieben. Aus seinen Erzählungen ist auch eine kleine Audioreihe der Produktionsfirma Berlin Producers in Zusammenarbeit mit der DW entstanden.

Felix Schmidt war lange Zeit Leiter des Kulturressorts beim Wochenmagazin "Der Spiegel" und später Chefredakteur namhafter überregionaler Zeitungen und Zeitschriften. Auf diese Weise lernte er Dirigenten, Komponisten und Interpreten kennen. Ein bisschen Glück sei aber auch dabei gewesen, sagt er, dass all die Künstler bereit waren, mit ihm zu reden.

Das letzte Interview mit Paul Sacher

Mit dem Schweizer Dirigenten und Mäzen Paul Sacher hat Schmidt 1999 das letzte Interview vor dessen Tod geführt. Ein guter Einstieg in das Buch, denn Paul Sacher, dessen Stiftung in der Schweiz Dokumente zur Musik des Jahrhunderts sammelt und erforscht, erzählt in dem Gespräch von seinen Begegnungen mit Komponisten wie Richard Strauss, Bela Bartók oder Hans Werner Henze. Komponisten, die der Milliardär und langjährige Leiter eines Pharma-Unternehmens, mit Auftragswerken finanziell unterstützte.

Anne-Sophie Mutter und Dirigent Paul Sacher über eine Partitur gebeugt
Paul Sacher berät sich mit der Geigerin Anne-Sopie Mutter bei einer Probe 1986Bild: picture alliance/KEYSTONE

Alle Begegnungen, von denen Felix Schmidt erzählt, sind miteinander verzahnt. So verdankt die berühmte Geigerin Anne-Sophie Mutter Paul Sacher den Zugang zur Neuen Musik, die bis heute in ihren Konzerten eine Rolle spielt. Der Dirigent Herbert von Karajan war es wiederum, der sie schon in jungen Jahren für die Berliner Philharmoniker entdeckte.

Das letzte Interview im Buch führte Schmidt 2020 mit dem bekannten Klarinettisten und Komponisten der jüngeren Generation Jörg Widmann. Mit ihm sprach er über die veränderten Produktionsbedingungen in einer globalisierten Welt, in der musikalisch alles möglich scheint und in der Realität viele Konflikte die Gesellschaften spalten. Für Anne-Sophie Mutter hat Jörg Widmann erst jüngst ein Streichquartett geschrieben, in dem er die Zerrissenheit der Welt musikalisch umsetzt. Als Komponist war Pierre Boulez schon in Widmanns Jugend ein Vorbild, seine Musik für ihn wie ein Farbenrausch. "So eine Musik wollte ich auch machen", sagt er im Buch.

Freundschaft mit Pierre Boulez

Als Pierre Boulez die Opernhäuser sprengen wollte

Mit Pierre Boulez verband Felix Schmidt eine lange Freundschaft. Das erste Interview mit dem Dirigenten und Komponisten aus dem Jahr 1967 sorgte weltweit für Aufsehen. Das Gespräch erschien im Wochenmagazin "Der Spiegel" unter dem Titel "Sprengt die Opernhäuser in die Luft". "Da wäre es beinahe nicht zur Veröffentlichung gekommen, das ist eine spannende Geschichte", sagt Schmidt. Er wollte Boulez' Meinung zur deutschen Musikszene und zu den neuen Strömungen innerhalb des Musiktheaters hören. Boulez ergoss sich in Herabwürdigungen seiner Zeitgenossen.

Die Redaktion hatte Angst vor nachfolgenden Prozessen und wollte den Artikel nicht drucken. Verleger Rudolf Augstein schritt ein und sorgte selbst für die Veröffentlichung. Es folgte eine große Debatte in den Feuilletons. Der Philosoph Theodor W. Adorno verlangte sogar, man möge Felix Schmidt die Musikberichterstattung aus der Hand nehmen. Der Komponist Hans Werner Henze, den Boulez als "lackierten Friseur" bezeichnet hatte, telegrafierte umgehend und diffamierte Boulez seinerseits.

Wenn das Tonband versagt

Dabei wäre dieses weltbekannte Interview aus einem anderen Grund fast gar nicht zustande gekommen. Getroffen hatten man sich in Rom. "Das waren noch formidable Zeiten. Da hat der Konferenzstenograph der deutschen Botschaft das Interview mitgeschrieben und hat gleichzeitig auch alles mit einem Tonband aufgenommen", erzählt Felix Schmidt. "Der Stenograph hat leider nur jedes dritte Wort mitgeschrieben und das Tonband war kaputt." Das Interview war verloren. Zum Glück zeigte sich Pierre Boulez bereit, das Ganze zu wiederholen, auch seinen Satz, dass man die Opernhäuser in die Luft sprengen müsse. "Er hat das auch im zweiten Aufguss noch genauso gesagt, sogar noch verschärfter erfreulicherweise."

Buchautor Felix Schmidt sitzt am Tisch und schreibt an seinem Buch Gotteskinder und Störenfriede
Felix Schmidt bei den Korrekturen an seinem Buchmanuskript in FrankreichBild: Mathias Nolte

Ein solches Interview sei heutzutage kaum vorstellbar. Es würde auch kaum jemand wagen, so offen und vollmundig zu reden. "Ich habe das auch bei meinen letzten Interviews gemerkt, dass die Gesprächspartner vorsichtiger geworden sind", sagt Schmidt. "Das war damals wirklich eine andere Zeit. Gerade in den 1960er Jahren, da gab es noch sehr viel intellektuellen Radau."

Korrekt, aber unnachgiebig im Interview

Felix Schmidt hat immer darauf geachtet, seinen Gesprächspartnern gegenüber fair zu bleiben. "Ich habe bei meiner ganzen journalistischen Tätigkeit versucht, diesen schmalen Grad zu gehen, korrekt gegenüber den Interviewten zu sein, aber auch meinem journalistischen Temperament keine Zügel anzulegen." Sein guter Ruf öffnete Felix Schmidt viele Türen, wie die von John Cage, Vladimir Horowitz, Karl Böhm oder Daniel Barenboim.

Als Stockhausen Wolfgang Rihm beleidigte

Mit Wolfgang Rihm trank Felix Schmitd den guten Wein, mit Rostropowitsch den Wodka. "Ich bin in den Interviews schon an die Grenzen gegangen, das war bekannt, aber ich habe die Grenzen nicht überschritten", sagt er. Natürlich zuckte Herbert von Karajan zusammen, als Felix Schmidt ihn fragte, warum er gleich zweimal in die NSDAP eingetreten sei. Genauso konsterniert war der Startenor José Carreras, der im Interview von seiner guten Ehe schwärmte, woraufhin Felix Schmidt nach der Geliebten in Salzburg fragte, von der alle Welt wusste. "Da dachte ich, das Gespräch würde abgebrochen, jetzt bin ich ein Stück zu weit gegangen." Doch Carreras sagte nur, das sei reine Privatsache.

Für gute Interviews braucht man Zeit

Gerne hätte man Fotos von diesen historischen Begegnungen gesehen. Leider ist das Buch ganz ohne Bilder, weder von den Musikern noch von Felix Schmidt mit ihnen. Solche Dokumentationen seien ihm nie wichtig gewesen, sagt der Musikjournalist bescheiden.

Als Horowitz nichts zu essen bekam

Die Tiefe der Gespräche eines Journalisten, der sich Zeit genommen hat, machen die Qualität des Buchs aus. Felix Schmidt gewährt nicht nur einen Blick hinter die Kulissen der Musikwelt, sondern vermittelt auch lebendige Musikgeschichte(n).

Das Buch "Gotteskinder und Störenfriede - Das Spiel und die Weisheit begnadeter Musiker" von Felix Schmidt ist im Schwabe Verlag erschienen.