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Ukrainische Gasspeicher für EU-Erdgas?

Jo Harper
27. Juni 2023

Die Ukraine verfügt über die größten Gasspeicher in Europa, und die EU braucht mehr Speicher, um Preisschwankungen zu reduzieren. Dafür müsste die EU aber das Risiko russischer Angriffe auf die Infrastruktur absichern.

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Ukraine | staatlicher Energiekonzern Naftogaz in Kiew
Bild: NurPhoto/picture alliance

Nachdem der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit Februar 2022 zu extrem hohen Energiepreisen geführt hat, steht Europa nun vor einem möglichen Überangebot an Gas und einem anschließenden dramatischen Preisverfall. Deshalb braucht die EU mehr Speicherkapazitäten.

"Während der Sommer naht, sieht sich die EU inmitten der schlimmsten Energiekrise ihrer Geschichte einer ungewöhnlichen Situation gegenüber: zu viel Gas, um damit klarzukommen", warnte kürzlich das Center on Global Energy Policy (CGEP) der Columbia University in New York.

Im vergangenen August stiegen die Preise in der EU auf ein Allzeithoch von 350 Euro (390 US-Dollar) pro Megawattstunde, nachdem Russland seine Lieferungen gekürzt hatte. Dann fielen sie im Jahr 2023 wieder deutlich, vor allem, weil der Winter milder als erwartet war.

Wie funktionieren eigentlich Gasspeicher?

Die Rekordpreise von 2022 führten zu massiven staatlichen Eingriffen, bei denen die EU-Regierungen 646 Milliarden Euro ausgaben, um Unternehmen und Verbraucher gegen die extrem gestiegenen Preise abzusichern, so die Berechnungen der Denkfabrik Bruegel in Brüssel.

Ohne Gaspipeline-Lieferungen aus Russland sind die europäischen Gasmärkte "feiner ausbalanciert" als in der Vergangenheit. Das bedeutet, dass ein Nachfrageschub oder eine Versorgungsunterbrechung unverhältnismäßige Auswirkungen haben kann, sagt Kamil Lipinski vom Polnischen Wirtschaftsinstitut (PIE).

Ukraine-Speicher könnten Markt stabilisieren

Die deutschen Erdgasspeicher, die 22 Prozent der EU-Speicherkapazität abdecken, waren im vergangenen Winter in der Lage, die EU ausreichend zu versorgen, um Versorgungsengpässe bei geschützten Kunden und kritischen Gaskraftwerken zu vermeiden, so Lipinski. Weil sie allein aber nicht ausreichen, um EU-weite Preisschwankungen auszugleichen, sucht die EU nach anderen Optionen.

Der Sprecher der EU-Kommission, Tim McPhie, bestätigte gegenüber der DW, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Speicher bis November auf 90 Prozent der Gesamtkapazität auffüllen müssen.

"Europa muss so viel ukrainische unterirdische Speicherkapazität wie möglich nutzen, um mögliche Nachfragespitzen im Winter abzudecken", fordert Jacopo Casadei vom Thinktank Energy Aspects gegenüber der DW.

Im Jahr 2020 harmonisierte die Ukraine ihren Rechtsrahmen mit der EU und senkte die Kosten für die Lagerung von Gas in inländischen Speichern für in der EU ansässige Händler, indem sie Tarife und Zölle reduzierte. Vor zwei Monaten wurde Ukrtransgaz gemäß der EU-Gasspeicherverordnung zertifiziert.

Der ukrainische Markt bietet außerdem die Speicherung zu einem festen Kostensatz an, wodurch Schwankungen auf dem Spotmarkt vermieden werden.

Die ukrainische Speicheranlage, die sich im Besitz der staatlichen Gasgesellschaft Naftogaz befindet, verfügt über eine Kapazität von 31 Milliarden Kubikmetern (bcm) in 11 unterirdischen Speicheranlagen. Die große Gasspeicherkapazität der Ukraine - die nur von den USA und Russland übertroffen wird - resultiert aus der früheren Rolle des Landes als wichtiges Transitland für russisches Gas auf dem Weg nach Europa. 

Naftogaz - die Muttergesellschaft von Ukrtransgaz - kann nach eigenen Angaben den EU-Ländern eine Speicherkapazität von 10 Milliarden Kubikmetern anbieten, was eine Ergänzung der bestehenden EU-Gasspeicher von 100 Milliarden Kubikmetern um 10 Prozent darstellt. Laut Naftogaz könnte diese Kapazität auf 15 Milliarden Kubikmeter erweitert werden, wenn die Ukraine die von Russland besetzten Gebiete zurückerobert.

Etwa 25 Milliarden Kubikmeter, also 80 Prozent der ukrainischen Gasspeicherkapazitäten, befinden sich in der Westukraine, nahe der polnischen und slowakischen Grenze: Bilche-Volytsko-Uherske, Daschawa, Uhersko, Oparske und Bohorodchanske.

Nord-Stream-Explosionen
Weckruf für den Schutz der Infrastruktur: Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines Ende September 2022Bild: Danish Defence Command/dpa/picture alliance

Weitere zwei Milliarden Kubikmeter befinden sich in der Zentralukraine, weit entfernt von den Kriegsfronten und unter ukrainischer Kontrolle. Rund vier Milliarden Kubikmeter liegen näher an den östlichen Einspeisepunkten für russisches Gas, teilweise auf besetztem Gebiet. Die Anlage in Verhunske mit einer Speicherkapazität von 0,4 Milliarden Kubikmeter befindet sich in der von Russland kontrollierten Region Luhansk.

Der Speicher Bilche-Volytsko-Uherske - der größte in Europa - kann mehr als viermal so viel Erdgas lagern wie der größte Standort in Deutschland und lässt sich Experten zufolge problemlos an die EU-Netze anschließen. Berichten zufolge denkt die EU bereits über Verbindungen zu der 17,05 Milliarden Kubikmeter großen Anlage nach.

Nach Angaben der ukrainischen Gasnetzbetreiber verfügt das Gasfernleitungsnetz über mehr als 100 Transportrouten zwischen seinen Anlagen und den EU-Außengrenzen.

Risikominimierung erforderlich

"Russland geht bei seinen Angriffen auf die Infrastruktur methodisch vor, vor allem um der ukrainischen Bevölkerung Schmerz und Leid zuzufügen. Es lässt aber den Gastransit unversehrt. Ich bin mir nicht sicher, ob Russland an eine künftige Nutzung denkt", sagt Anna Mikulska vom Baker Institute for Public Policy der Rice University in Houston, Texas.

Russland liefert auch weiterhin Gas über die Ukraine, und unter angespannten Marktbedingungen könnte dies eine weitere Möglichkeit sein, Druck auf Europa auszuüben, fügt Mikulska hinzu.

Schäden an der physischen Gasinfrastruktur, der Verlust der Kontrolle über bestimmte Anlagen und staatliche Verbote von Erdgas-(Re-)Exporten in Versorgungsnotfällen sind nur einige der Risikofaktoren, mit denen europäische Händler im Fall der Fälle rechnen müssen, heißt es in einem PIE-Bericht.

Die Speicherung von Fremdgas in der Ukraine würde staatliche Garantien für privatwirtschaftliche Unternehmen erfordern, um die staatlichen Speicherkapazitäten zu nutzen, geben die Experten des Center on Global Energy Policy (CPEG) zu bedenken.

Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) könnte beispielsweise eine Rolle bei der Bereitstellung von Garantien spielen, um politische und kriegsbedingte Risiken abzudecken, so die CPEG. Die EBRD erklärte gegenüber der DW, es sei noch zu früh, um Einzelheiten bekanntzugeben,.

EU-Kommissionssprecher McPhie bestätigte, dass die Kommission prüfe, wie Garantien von öffentlichen Institutionen einen angemessenen Versicherungsschutz für das in der Ukraine gelagerte Erdgas bieten könnten. Doch die Zeit wird knapp.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.