Neue Kampfhandlungen machen es unmöglich, Zivilisten aus der belagerten Stadt zu bringen. Beide Seiten geben sich die Schuld dafür. Immer mehr Menschen verlassen die Ukraine. Ein Überblick.
Die wichtigsten Informationen in Kürze:
Die Rettung von Zivilisten aus der von Russland belagerten Hafenstadt Mariupol ist erneut gescheitert. Zunächst hatten die örtlichen Behörden mitgeteilt, mit den russischen Truppen sei eine elfstündige Waffenruhe vereinbart worden. Doch am Mittag hieß es von ukrainischer Seite, die Aktion sei abgebrochen worden, aufgrund der andauernden russischen Angriffe. Das Rote Kreuz sprach vom "Fehlen einer detaillierten und funktionierenden Übereinkunft". Die Menschen lebten in Schrecken und suchten verzweifelt nach Sicherheit.
Nach ukrainischer Darstellung sind die Bewohner seit Tagen ohne Strom und Heizung. Schon am Samstag war eine Feuerpause für einen humanitären Korridor nicht eingehalten worden, wofür sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich machten.
Die Situation in Mariupol ist nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) "katastrophal". Sie verschlimmere sich "von Tag zu Tag", sagte der MSF-Notfallkoordinator in der Ukraine, Laurent Ligozat. Es sei "unerlässlich", dass die Zivilbevölkerung über einen humanitären Korridor aus der Stadt geholt werde.
Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko sprach von einer "humanitären Blockade" durch russische Einheiten. Diese hätten alle 15 Stromleitungen für die Stadt ausgeschaltet. Da die Heizkraftwerke für ihren Betrieb Strom benötigten, sitze man auch in der Kälte. Auch der Mobilfunk funktioniere ohne Strom nicht. Noch vor Beginn des Krieges sei die Hauptwasserleitung abgetrennt worden, und nach fünf Kriegstagen habe man auch die Reservewasserversorgung verloren. Es gehe um nichts anderes, als die "Ukraine von den Ukrainern zu befreien, so sehe ich das", sagte Boitschenko.
Nach mehr als einer Woche Krieg fliehen immer mehr Ukrainer aus ihrer Heimat - vor allem in die Länder der EU. Nach aktuellen Schätzungen der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR sind bereits 1,5 Millionen Menschen vor dem russischen Angriffskrieg geflohen. "Dies ist die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg", teilte die Organisation mit. Allein in Polen sind rund 922.400 Flüchtlinge eingetroffen.
Auch in Deutschland ist die Zahl der Flüchtlinge deutlich gestiegen. Die Hauptstadt Berlin kommt nach den Worten von Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) an ihre Belastungsgrenze. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums registrierte die Bundespolizei bis Sonntag deutschlandweit 37.786 Geflüchtete aus der Ukraine - und damit fast 10.000 mehr als am Vortag. Ein Sprecher des Ministeriums wies aber darauf hin, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher sein könnte.
Nach Einschätzung des Migrationsforschers Herbert Brücker könnten die Zahlen bereits kommende Woche größer sein als die Fluchtbewegung in den Jahren 2015/16. "Im Laufe der kommenden Woche werden wir, sofern die dramatische Entwicklung anhält, die Schwelle von 2,4 Millionen Geflüchteten, also den gesamten Umfang der Fluchtmigration der Jahre 2015 und 2016 in die EU, übertreffen", sagte Brücker der Zeitung "Rheinischen Post". "Noch nie sind seit den großen Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkriegs in so kurzer Zeit so viele Menschen geflohen."
Bei neuen Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine sind in Russland nach Angaben von Bürgerrechtlern mehr als 4400 Menschen festgenommen worden. 2035 von ihnen seien in der Hauptstadt Moskau festgesetzt worden, 1150 weitere in der Ostsee-Metropole St. Petersburg, teilte die Organisation Owd-Info am späten Sonntagabend mit. Insgesamt habe es Proteste in mehr als 60 russischen Städten gegeben. Das Innenministerium hatte zuvor von landesweit rund 5200 Teilnehmern und mehr als 3500 Festnahmen bei den nicht genehmigten Kundgebungen gesprochen. Das Team des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny veröffentlichte auf Youtube Videos - darunter eines von einer Gruppe älterer Frauen,
die "Nein zum Krieg!" rufen.
Seit Beginn des russischen Krieges in der Ukraine am 24. Februar wurden laut Owd-Info knapp 11.000 Demonstranten festgenommen.
Derweil wurde bekannt, dass der Chefdirigent des weltbekannten Moskauer Bolschoi Theaters, Tugan Sochijew, seinen Posten abgibt. Zugleich legte er auch sein Amt als Musikdirektor des Nationalorchesters am Opernhaus Capitole im französischen Toulouse nieder. Da er zu der "untragbaren Wahl" zwischen seinen russischen und französischen Musikern genötigt worden sei, habe er sich entschieden, beide Leitungen aufzugeben. Viele Menschen hätten eine Positionierung "zu dem, was derzeit passiert", erwartet. Ohne den Krieg in der Ukraine konkret zu nennen, erklärte Sochijew, er habe niemals bewaffnete Konflikte unterstützt und immer mit den Opfern aller Konflikte mitgefühlt.
Während die russischen Angriffe auf die Ukraine weitergehen, wird auf diplomatischer Ebene versucht, auf Kreml-Chef Wladimir Putin einzuwirken. So telefonierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erneut fast zwei Stunden mit Putin. Anschließend zeigte er sich besorgt über einen möglicherweise kurz bevorstehenden Angriff auf die Hafenstadt Odessa. Macron unterstrich zudem, dass in der Ukraine eine Verhandlungslösung gefunden werden müsse und dass die Atomanlagen des Landes geschützt werden müssten.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erneuerte in einem Telefonat mit Putin seine Forderung nach einer Waffenruhe und bot sich als Vermittler an. Es müssten dringend Schritte für eine Waffenruhe, für die Öffnung humanitärer Korridore und für die Unterzeichnung eines Friedensabkommens eingeleitet werden, hieß es in Ankara.
Eine dritte Runde der Gespräche zwischen der Ukraine und Russland soll Anfang kommender Woche stattfinden. Das teilte der Leiter der ukrainischen Delegation, David Arachamija, per Facebook-Nachricht mit. Später sagte der russische Außenpolitiker Leonid Sluzki im Staatsfernsehen: "Die dritte Runde kann wirklich in den nächsten Tagen stattfinden. Möglich ist es am Montag, dem 7. (März)." Zunächst war mit weiteren Gesprächen bereits an diesem Wochenende gerechnet worden.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief unterdessen seine Landsleute erneut dazu auf, russische Truppen aus dem Land zu drängen. "Wir müssen nach draußen gehen! Wir müssen kämpfen! Wann immer sich eine Gelegenheit bietet", sagte Selenskyj in einer Videobotschaft. Die Ukrainer sollten wie in Cherson, Berdjansk oder Melitopol "dieses Übel aus unseren Städten vertreiben". Aus diesen Orten gab es in den vergangenen Tagen Berichte darüber, dass sich unbewaffnete Menschen russischen Einheiten entgegenstellten.
Laut dem Generalstab in Kiew liegt der Hauptfokus der russischen Angreifer neben Mariupol weiter in der Umzingelung der Hauptstadt Kiew, der Millionenmetropole Charkiw im Osten und der Stadt Mykolajiw im Süden. Russische Einheiten versuchten, in die Außenbezirke von Kiew einzudringen und näherten sich der Autobahn nach Boryspil, wo Kiews internationaler Flughafen liegt. Russland plane zudem die Einnahme des Wasserkraftwerks Kaniw rund 150 Kilometer südlich von Kiew am Fluss Dnipro und habe einen Flughafen im westukrainischen Gebiet Winnyzja zerstört.
Von russischer Seite hieß es, die Armee und die von ihr unterstützten Separatisten seien im Osten weiter auf dem Vormarsch. Bei den Angriffen hätten sich die russischen Streitkräfte elf Kilometer weit ins Landesinnere bewegt. Fünf weitere Ortschaften seien unter Kontrolle gebracht worden, teilte das Verteidigungsministerium mit. Die prorussischen Rebellen in den Regionen Luhansk und Donezk brachten demnach insgesamt elf Ortschaften unter ihre Kontrolle. Die Angaben beider Seiten können nicht unabhängig überprüft werden.
Marcin Buzanski, leitender Berater beim Warschauer Sicherheitsforum (WSF), sagte der Deutschen Welle: "Es gab keine Sekunde lang Zweifel, dass die Ukrainer bis zum Ende kämpfen werden." Es sei klar, dass "die gesamte ukrainische Nation in diesem Moment zum Kampf mobilisiert ist". Diese Mobilisierung sei "ein Zeichen dafür, dass die Ukraine nicht aufgeben wird", fügte Buzanski hinzu.
Mit Blick auf gegen Russland gerichtete Sanktionen meinte Buzanski vom WSF, diese seien "nicht so stark, wie sie sein könnten". "Es gibt immer noch Oligarchen, die nicht sanktioniert werden. Es gibt immer noch Energielieferungen. Es wird immer noch Öl gekauft. Das muss sofort aufhören."
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