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Türkei: Illegale Abschiebungen nach Syrien

Daniel Heinrich
25. Oktober 2019

Lange vor dem Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien schob die Türkei syrische Flüchtlinge in das Bürgerkriegsland ab. Das besagt der neue Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

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Türkei Flüchtlinge in einem Flüchtlingslager in Gaziantep
Bild: picture-alliance/dpa/Moku/U. O. Simsek

Anna Shea von Amnesty International (AI) hat eine klare Meinung zur Flüchtlingspolitik der türkischen Regierung. Shea ist Expertin für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten bei der Menschenrechtsorganisation. Auch wenn die Türkei Anerkennung dafür verdiene, dass sie in den vergangenen acht Jahren mehr als 3,6 Millionen Frauen, Männer und Kinder aus Syrien aufgenommen habe,  kann "sie diese Großzügigkeit nicht als Vorwand dafür nehmen, Menschen in ein aktives Konfliktgebiet abzuschieben – entgegen nationaler und internationaler Rechtslage", sagt sie im Gespräch mit der Deutschen Welle. 

Laut dem neuesten Bericht von Amnesty International "Sent to a war zone: Turkey's illegal deportations of Syrian refugees" tut Ankara allerdings genau das: Experten der Menschenrechtsorganisation hatten zwischen Juli und Oktober 2019 Dutzende Interviews dazu geführt und 20 Fälle von Abschiebungen konkret überprüft. In allen Fällen wurden die Menschen in Bussen über die Grenze gebracht, in denen Dutzende weitere Personen saßen, deren Hände mit Kabelbindern gefesselt  waren und die offenbar ebenfalls abgeschoben wurden. Bei der überwältigenden Mehrheit der Abgeschobenen handelte es sich um erwachsene Männer, die in Bussen durch die südtürkische Provinz Hatay zum Grenzübergang Bab al-Hawa in der syrischen Provinz Idlib gebracht wurden. Zwar ist die genaue Zahl der Abschiebungen unklar, da keine offiziellen Statistiken vorliegen. Allerdings schätzen die Experten, dass die Zahl der in den vergangenen Monaten Abgeschobenen in die Hunderte geht.

Syrien Flüchtlingslager in Idlib
Syrische Flüchtlingskinder in einem Camp in der Provinz Idlib im Sommer 2018Bild: Getty Images/AFP/A. Watad

Keine neuen Vorwürfe

In türkischen Regierungskreisen in Ankara leugnet man gar nicht, dass sich inzwischen rund 320.000 in die Türkei geflüchtete Syrer wieder in ihrer Heimat befinden. Allerdings spricht man bei den türkischen Behörden von "freiwilligen Rückkehrern". Eine Einschätzung, die Anna Shea gegenüber der DW klar widerspricht: "Die Behauptung der Türkei, dass sich die syrischen Flüchtlinge selbst dazu entschieden hätten, direkt in den Konflikt zurückzukehren, ist gefährlich und unehrlich. Im Gegensatz dazu haben unsere Recherchen ergeben, dass die Menschen ausgetrickst und gezwungen wurden, zurückzugehen".

Kristian Brakel, Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung
Türkei-Experte Kristian BrakelBild: picture-alliance/dpa/M. Redeligx

Die Erkenntnisse von Amnesty International decken sich mit der Einschätzung von Kristian Brakel. Der Leiter der Heinrich Böll Stiftung in Istanbul hatte gegenüber der DW schon Mitte September erklärt, dass es eine ganze Reihe glaubhafter Berichte von Menschen gebe, die sich auf Polizeiwachen gemeldet hätten, um dort ihren Aufenthaltsstatus zu verlängern. "Dort wurde ihnen dann ein Schreiben zur Unterschrift vorgelegt, mit dem sie ihre 'freiwillige Ausreise' bestätigen sollten." Unter Androhung von körperlicher Gewalt solle ihnen klar gemacht worden sein, dass ein Widerspruch nicht akzeptiert werden würde. Unter solchen Umständen, so Brakel, könne man "natürlich nicht von freiwilliger Ausreise sprechen".

Kehrtwende in türkischer Flüchtlingspolitik

Sollten sich die Einschätzungen der Experten bestätigen, würde dies eine 180-Grad-Wende in der türkischen Flüchtlingspolitik bedeuten.  Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 hatte allen voran Präsident Recep Tayyip Erdogan wie auch Mitglieder seiner Regierungspartei AKP immer wieder die Hilfsbereitschaft der türkischen Regierung betont.

So sagte die AKP-Politikerin Fatma Sahin, seit 2014 Bürgermeisterin der Stadt Gaziantep an der Grenze zu Syrien, im Herbst 2017 im Gespräch mit der  DW: "Seit Jahren versuchen wir den notleidenden Menschen aus Syrien zu helfen. Das hat hier Tradition, das ist unsere Kultur. Wenn dein Nachbar Hunger leidet, dann solltest du versuchen, deinem Nachbarn zu helfen. Ich bin der Meinung, dass wir mit unserem Verhalten zum Vorbild für die gesamte Welt geworden sind. Wir sind zum Gewissen der Welt geworden." 

Syrien Idlib Türkische Militärpatrouille
Türkische Militärfahrzeuge fahren in der syrischen Provinz Idlib PatrouilleBild: picture-alliance/AA/I. Khatib

Internationale Gemeinschaft in der Pflicht

Liest man den aktuellen Bericht von Amnesty International scheint von diesem humanitären Ansatz heute nicht mehr viel übrig. Für die Misere ist allerdings nicht nur die Türkei alleine verantwortlich. Gegenüber der DW nimmt Anna Shea auch die internationale Gemeinschaft kritisch in den Blick. Es sei erschütternd, dass Russland diese Woche ein Abkommen mit der Türkei geschlossen habe, "in dem der ‚sicheren und freiwilligen Rückkehr‘ von Flüchtlingen in eine ‚Sicherheitszone‘ zugestimmt wird, die erst noch geschaffen werden muss. Die Abschiebungen waren bisher alles andere als sicher und freiwillig – und Millionen weiterer Flüchtlinge aus Syrien sind nach wie vor in Gefahr".

Auf der Suche nach einem Ausweg aus der Krise seien nun vor allem die Europäer am Zug: "Die EU und die übrige internationale Gemeinschaft sollten mit Resettlement-Programmen die Aufnahme syrischer Flüchtlinge aus der Türkei drastisch erhöhen, anstatt ihre Energie darauf zu verwenden, möglichst viele Menschen davon abzuhalten, in ihren Ländern Asyl zu suchen."

Eine große Chance, die Probleme direkt anzugehen, bietet sich an diesem Wochenende. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) hatte am Donnerstagnachmittag im Bundestag abgekündigt, dass er am Samstag in die Türkei reisen wird. Dort werde er mit seinem türkischen Kollegen über die Lage in Syrien sprechen. Auch über die Situation der Flüchtlinge.