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Tödliche Polizeischüsse auf jungen Senegalesen

10. August 2022

Der Vorfall in Dortmund hat eine Debatte über die Angemessenheit des Einsatzes ausgelöst. Hat der betreffende Polizist mit seinen MP-Schüssen überreagiert? Oder war der psychisch labile Jugendliche doch zu gefährlich?

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Nach dem Tod eines Jugendlichen protestieren mehrere hundert Demonstranten vor der Polizeiwache
Nach dem Tod eines Jugendlichen protestieren mehrere hundert Demonstranten vor einer Dortmunder Polizeiwache Bild: Roberto Pfeil/dpa/picture alliance

Nach den tödlichen Schüssen eines Polizisten auf einen 16-jährigen Senegalesen in Dortmund sind Forderungen nach Aufklärung und der Einführung einer externen Polizei-Beschwerdestelle laut geworden. Die Ereignisse müssten gründlich untersucht und aufgeklärt werden, forderte der Deutsche Anwaltverein (DAV) in Berlin. Die Auslagerung der Ermittlungen an die Polizei der Nachbarstadt Recklinghausen habe "nur symbolischen Wert", sagte der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr im WDR.

Fünf Schüsse in Bauch, Gesicht, Unterarm und Schulter

Am Montagnachmittag hatte ein Polizeibeamter vor einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt laut Staatsanwaltschaft mit einer Maschinenpistole sechsmal auf den Senegalesen geschossen. Fünf Schüsse hätten den Jugendlichen an Bauch, Gesicht, Unterarm und Schulter verletzt. Er starb im Krankenhaus. Bei der Waffe handelte es sich den Angaben zufolge um eine Maschinenpistole des Typs MP5. Die Polizei war mit elf Beamten vor Ort. Aus "Neutralitätsgründen" übernahm die Polizei Recklinghausen die Ermittlungen.

Polizei und Rettungsdienst am Ort des Geschehens in der Holsteiner Straße in Dortmund
Polizei und Rettungsdienst am Ort des Geschehens in der Holsteiner Straße in Dortmunds Nordstadt Bild: Markus Wüllner/Video-Line TV/dpa/picture alliance

Der Jugendliche selbst hatte bisherigen Erkenntnissen zufolge ein Messer dabei gehabt, teilte der Dortmunder Oberstaatsanwalt Carsten Dombert mit. Was genau er damit vorhatte, sei nicht klar. Die Ermittler gingen davon aus, dass er die Polizeibeamten angegriffen habe. Zudem stehe im Raum, dass der 16-Jährige suizidale Absichten gehabt haben könnte, so Dombert weiter. Der Jugendliche sei kurz vor dem Vorfall in einer psychiatrischen Klinik gewesen. Er habe sich wegen psychischer Probleme selbst dorthin begeben.

Forderung nach Polizeibeauftragtem und Beschwerdestellen

Polizeiexperte Behr, Professor an der Akademie der Polizei Hamburg, verlangte einen externen, unabhängigen Polizeibeauftragten. Eine solche Stelle, die nicht im Hierarchiesystem der Polizei verortet sein und Ermittlungskompetenzen haben sollte, gebe es in Deutschland noch nicht, sagte der Wissenschaftler. Er nannte den Einsatz einer Maschinenpistole in diesem Fall "ungewöhnlich". Diese Waffen gehörten seit den Anschlägen 2015 in Paris zwar zur Ausstattung deutscher Polizeiwagen, seien aber nur für "absolute Ausnahmefälle" vorgesehen.

Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler an der Hochschule der Polizei Hamburg
Rafael Behr, Wissenschaftler an der Hochschule der Polizei Hamburg: MP-Einsatz in diesem Fall "ungewöhnlich"Bild: Ulrich Perrey/dpa/picture alliance

Der Deutsche Anwaltverein mahnte, polizeiliche Maßnahmen müssten "auch im konkreten Einsatz verhältnismäßig sein". Ob das im Dortmunder Fall eingehalten wurde, müsse gründlich geprüft werden. Der DAV forderte zudem die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen bei der Polizei in Bund und Ländern. Diese müssten mit den erforderlichen Ermittlungsbefugnissen ausgestattet werden, um Hinweisen nachgehen zu können.

Innenministerium: Geschossen wird, "bis eine erkennbare Wirkung eintritt"

Das nordrhein-westfälische Innenministerium stellte seinerseits klar, dass gerade bei Messerangriffen der Einsatz einer Schusswaffe nötig sein könne. Schusswaffen dürften gegen Menschen eingesetzt werden, um etwa eine Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren und wenn "andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet wurden oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen", hieß es aus dem Ministerium. Auf kurze Distanzen sei die Gefahr lebensgefährlicher Verletzungen für Polizisten durch Messer sehr wahrscheinlich. Geschossen werde dann so lange, "bis eine erkennbare Wirkung eintritt und die Angriffsbewegung unterbrochen wird". Das könne auch mehrere Treffer erfordern.

Verena Schäffer, Grünen-Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen Landtag, zeigte sich erschüttert vom Tod des Jugendlichen, der nach Deutschland geflüchtet sei, "um hier eine sichere Zukunft zu haben". Die Hintergründe und Abläufe des Polizeieinsatzes müssten gründlich untersucht werden. Erst nach den staatsanwaltschaftlichen und polizeiinternen Ermittlungen sei "eine sachlich fundierte Bewertung des Einsatzes und das Ziehen möglicher Konsequenzen möglich".

Carsten Dombert, Dortmunds Oberstaatsanwalt
Carsten Dombert, Dortmunds Oberstaatsanwalt: Jugendlicher war kurz vor dem Vorfall in einer psychiatrischen KlinikBild: Bernd Thissen/dpa/picture alliance

Laut Staatsanwaltschaft wird mit Blick auf den Polizeibeamten, der auf den Jugendlichen geschossen hatte, der Anfangsverdacht der Körperverletzung mit Todesfolge geprüft. Die Entscheidung darüber, ob Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird, etwa weil der Polizist aus Notwehr handelte, werde noch einige Wochen dauern, sagte Oberstaatsanwalt Dombert.

sti/rb (dpa, epd)