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30. Was heisst hier behindert?

30. September 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Wer ist gemeint, wenn man von behinderten Menschen spricht? Lange Zeit existierte das Wort "behindert" gar nicht.

https://p.dw.com/p/411ZZ

Zum Podcast geht es hier. 

Jingle: DW. Echt behindert!

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!". Mein Name ist Matthias Klaus.

Was ist eigentlich "behindert"? Sind wir behindert oder werden wir behindert? Kann man eine Behinderung haben oder mit einer Behinderung leben? Behindert uns die Umwelt oder unsere körperliche Einschränkung oder beides? Und wenn ja, wie viel? Was meint jemand, der sagt, dass dies oder jenes "voll behindert" ist? Was ist das überhaupt für ein Begriff "Behinderung"? Hat man das im Mittelalter auch schon gesagt? Und wo ist der Unterschied zwischen Krankheit und Behinderung?

Um all das soll es heute gehen. Dazu habe ich eine Expertin im Podcast, Frau Prof. Dr. Anne Waldschmidt. Sie lehrt und forscht zu Disability Studies, also Behinderungswissenschaften in Köln. Schönen guten Tag, Frau Waldschmidt.

Anne Waldschmidt: Guten Tag, Herr Klaus! Ich danke für die Einladung zum Gespräch.

Matthias Klaus: Immer gerne. Sie sind Expertin für Behinderung. Warum interessiert Sie das?

Anne Waldschmidt: Ich finde eigentlich gesellschaftliche Prozesse der Eingliederung und Ausgliederung oder der Inklusion und Exklusion, in moderner Sprache, ziemlich spannend. Warum, und wie macht die Gesellschaft das, dass bestimmte Menschen stigmatisiert werden, herabgewürdigt, ausgegrenzt und andere scheinbar kein Problem damit haben, gesellschaftlich teilzuhaben, beteiligt zu werden an verschiedensten Dingen.

Dieses Interesse an Ausgrenzung und Mechanismen, das hat mich eigentlich motiviert. Die Disability Studies für mich zu entdecken. Wahrscheinlich spielt da auch ein bisschen meine persönliche Behinderungserfahrung eine Rolle. Aber das würde ich jetzt nicht so überbewerten.

Matthias Klaus: Würden Sie mir dennoch verraten, welche Behinderung Sie haben?

Anne Waldschmidt: Das ist schwierig, denn ich könnte nicht mit einer medizinischen Diagnose arbeiten, aber ich würde jetzt mal sagen, ich habe eine Gehbeeinträchtigung. Vor allem das ist eigentlich das, was mich so ein bisschen im Alltag manchmal stört und hemmt und behindert. Das finde ich ganz interessant, diese Frage: "Welche Behinderung haben Sie denn?"

Eigentlich weigere ich mich, sie zu beantworten, weil eigentlich fühle ich mich ja gar nicht behindert. Also ich möchte ganz gerne, auch soziologisch macht das durchaus Sinn, unterscheiden zwischen Selbstverständnis oder auch Identität (Wie fühlt man sich als Mensch? Wie versteht man sich als Mensch, als Person, als Individuum?) und zwischen gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen. 

Zuschreibungsprozesse können, müssen aber nicht, ausgrenzend sein. Ich habe diese Schwerbehinderten-Eigenschaft und das ist ja eine Zuschreibung, die vonseiten der Behörden abgelaufen ist, aber basiert auf einer medizinischen Diagnose oder einem Befund.

Also es gab ja dann ein Gutachten. Damit ist dann verbunden ein Ausweis und bestimmte Nachteilsausgleiche. Andererseits ist dieser Status auch mit Diskriminierungen verbunden. Das ist eigentlich das Spannende an der Behinderungskategorie. Sie ist sowohl "privilegierend", also sie gewährt den Zugang zu Nachteilsausgleichen und gleichzeitig ist sie eine Zuschreibung, die die meisten von uns nicht so gerne haben möchten, weil man weiß, dass damit auch Benachteiligungen, Diskriminierungen unterschiedlichster Art verbunden sind. 

Matthias Klaus: Disability Studies gibt es ja erst seit vielleicht knapp 20 Jahren. Sie werden das nicht studiert haben. Von welchem Fach kommen Sie denn her? 

Anne Waldschmidt: Ich habe tatsächlich eine relativ herkömmliche Ausbildung genossen, insofern, als ich drei Fächer studiert habe: Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Und ich habe ein Diplom in Sozialwissenschaften von der Uni Bremen. Das ist meine Ausbildung, und das prägt auch meine Perspektiven auf das Thema der Behinderung oder die Art, wie ich Disability Studies betreibe. Also ich betreibe im Prinzip sozialwissenschaftliche Disability Studies.

Allerdings beschäftige ich mich auch mit Kultursoziologischen Aspekten und gerade jetzt bezogen auf Behinderung finde ich spannend und auch nötig, kulturwissenschaftliche Perspektiven auch zu benutzen. Also ich versuche so ein bisschen eine interdisziplinäre Herangehensweise.

Matthias Klaus: Dann will ich jetzt mal versuchen, ihre historische Seite hervorzulocken. Und zwar Behinderung ist ja ein modernes Wort. Ich weiß gar nicht, ob es das früher schon gab. Wissen Sie, seit wann wird das Wort überhaupt benutzt?

Anne Waldschmidt: Also das Wort in einem sehr allgemeinen Sinne taucht tatsächlich im Wörterbuch der deutschen Sprache auf, das ja Mitte des 19 Jahrhunderts  von den Brüdern Grimm: Jacob und Wilhelm Grimm gegründet worden ist. Jedenfalls, wenn man das Wörterbuch der Gebrüder Grimm mal konsultiert, wird man feststellen, dass unter Buchstabe "B" tatsächlich "behindert" und "Behinderung" auftauchen.

1851 glaube ich veröffentlicht, und dort werden diese beiden Wörter sehr, sehr unspektakulär, ganz harmlos beschrieben, und zwar in dem eher wortwörtlichen Sinne als etwas behindern, also in Form von: "Ich werde daran behindert, Fahrrad zu fahren" oder sowas. Oder ein weiteres Anwendungsbeispiel, was dort benutzt wird in dem Lexikon heißt (ich zitiere): "Um das Vorrücken zu behindern".

Und bei "Behinderung" wird nur ganz schlicht eine Erläuterung angegeben. Es gehe um häusliche Behinderung. Und diese ganz handfeste, konkrete Bedeutung hatte das Wort Behinderung bis eigentlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich, wenn wir noch ein bisschen mehr zurückgehen, zum Beispiel ins Mittelalter. Wenn Sie möchten, denn ich bin keine Mittelalter-Historikerin, das muss ich dazu sagen. Ich betreibe eher Zeitgeschichte.

Aber es gibt tatsächlich auch im deutschsprachigen Raum eine Arbeitsgruppe an der Universität Bremen, die sich wirklich länger mit der Geschichte der Behinderung im Mittelalter auseinandergesetzt hat. Und sie haben herausgefunden, dass damals wirklich keiner gewußt hätte, was das ist: "Der behinderte Mensch" oder "die Behinderten" oder so etwas.

Wie gesagt: Bis ins 19. Jahrhundert wurden Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen ganz handfest, konkret beeinträchtigungsspezifisch genannt. Also so wie in ihrem Falle: Blindheit. Oder wie im Falle von körperlicher Beeinträchtigung: Das wären dann die "Krüppel" gewesen, man wäre "verkrüppelt" gewesen.

Menschen, die lernschwach sind, Menschen mit sogenannter kognitiver Beeinträchtigung, zu denen sagte man ganz einfach "Idioten". Heute ist das ein Schimpfwort. Man sagte, sie sind "blöde" oder "doof" oder "debil". Heute sind das Schimpfwörter.

Matthias Klaus: Ich habe mich vorhin hier in der Vorbereitung noch ein bisschen durchs Internet gelesen, unter anderem gefunden, dass man im Mittelalter überhaupt nicht davon ausgegangen sei, dass das alles so ein Riesendefizit sei, wenn ein Mensch eine Fähigkeit nicht hatte oder ein Gliedmaß nicht hatte  oder so, sondern dass es eher darum gegangen sei, diesen Menschen doch irgendwie einen sinnvollen Platz in der Familie oder einer Gruppe oder einem Dorf oder einer Stadt zuzugestehen oder dass sie sich auch spezialisieren konnten.

Ich habe mir das immer anders vorgestellt und gedacht: "Früher war es alles immer noch viel schlimmer. Da wurde man komplett ausgegrenzt, liegen gelassen, wenn der Stamm weiterzog, all solche Dinge." Demnach war das gar nicht so. Und wissen Sie da was drüber? 

Anne Waldschmidt: Im Rückblick tendiert man sehr dazu, gerade wenn es um diese Differenzkategorie "Behinderung" geht, entweder das Mittelalter zu "verteufeln" - also: "das war da ganz, ganz schlimm. Behinderte Menschen sind dann sofort nach der Geburt getötet worden." Solche Geschichten kann man schon auch noch immer lesen. Oder man romantisiert: "Behinderte "Menschen waren damals halt nicht so sehr exkludiert, man war Teil der dörflichen Gemeinschaft" und so weiter. 

Einerseits gab es natürlich auch Exklusionsmechanismen im Mittelalter, keine Frage. Gleichwohl war viel wichtiger als die Tatsache, dass jemand eine Beeinträchtigung hatte, die Frage: "Kann dieser Mensch seine Rolle erfüllen? Ist er noch funktionsfähig? Kann er arbeiten?" Das war entscheidend.

Matthias Klaus: Im Grimmschen Wörterbuch ist "Behinderung" auch eine Verkehrsbehinderung oder wenn Schlamm auf der Straße ist oder solche Sachen? Wann ist das denn sozusagen in den Sprachgebrauch übergegangen, dass es auch verwendet wurde? Was ich etwas vom Anfang des 20. Jahrhunderts lese, da kommt das Wort "Krüppel" öfter vor, aber "Behinderung" liest man da auch noch nicht.

Anne Waldschmidt: Es gibt auch dieses Gründungswerk der wissenschaftlichen Heilpädagogik. Es ist auch Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Da ging es im Untertitel um die sogenannte "Idioten-Erziehung" - nur  mal so. Also da sprach man ohne Probleme von "Idioten" oder halt von "den Krüppeln". Und tatsächlich ist der Behinderungsbegriff in die Sprache über mehrere Wege eingewandert.

Zunächst kann man festhalten, dass dafür die sogenannte "Krüppel-Fürsorge" maßgeblich war, deren Grundstein mit der ersten statistischen Zählung jugendlicher Krüppel in Preußen im Jahr 1906 gelegt wurde. Es wurde initiiert unter anderem von dem "Krüppel-Pädagogen" (das muss man wirklich so sagen) Konrad Biesalski.

Und für diese statistische Erfassung musste ja definiert werden: Wer sollte als Krüppel gelten und wer nicht? Das hat man dann so gemacht, dass man "Krüppel" definiert hat. Ich zitiere hier einfach mal als: "ein in dem Gebrauch seines Rumpfes oder seiner Gliedmaßen behinderter Kranker."

Das ist doch super interessant. Auf einmal taucht dieses Adjektiv auf: "behinderter Kranker." Es ist anscheinend niemandem aufgefallen, aber so fand dann zumindest das Adjektiv Eingang in die sozialpolitische Terminologie. Und die Krüppel-Fürsorge im deutschen Kaiserreich hat den "Krüppel" als Fachbegriff benutzt. Da sprach man auch von "Verkrüppelung" und so weiter, entwickelte gleichwohl einen sehr modernen Ansatz. Man wollte nämlich "das Krüppel-Problem" lösen, indem man die Betroffenen orthopädisch behandeln ließ, ihnen eine Ausbildung gab, ihnen Arbeit verschaffte. Und somit sollten dann diese Krüppel zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft werden.

Und es hat dann bis in die 1920er Jahre gedauert, bis dieses Adjektiv "behindert," sich mehr verbreitete. Dafür ist die Selbsthilfe-Bewegung von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen auch ganz wichtig gewesen, deren Beeinträchtigung nicht z.B. durch den Ersten Weltkrieg verursacht worden war, also die sogenannten "Zivil-Behinderten".

Und da gab es dann 1919 einen "Bund zur Förderung der Selbsthilfe der Körperbehinderten". Und die haben ganz bewusst diesen Begriff der "körperlich Behinderten" oder der "Körperbehinderten" genutzt, weil sie argumentiert haben, dass der "Krüppel" Begriff wirklich äußerst diskriminierend und abwertend ist.

Und das war er ja damals auch Schon. Natürlich, die Krüppel-Fürsorge wollte aber diesen Begriff beibehalten, weil man argumentierte, das sei eine ganz neutrale, deskriptive Beschreibung. Und die Betroffenen haben sich dagegen gewehrt und haben dann eigentlich dazu beigetragen, dass aus dem Adjektiv "behindert" das Substantiv "Behinderte" wurde.

Und dann gab es tatsächlich 1920 das sogenannte preußische "Krüppel-Fürsorge-Gesetz". Die frühe Form der heutigen Sozialhilfe ist damals eigentlich begründet worden in der Weimarer Republik, also eigentlich ein modernes sozialpolitisches Vorhaben, gleichwohl mit diesem sehr abfälligen, abwertenden "Krüppel"-Begriff.

Matthias Klaus: Also es ging letzten Endes auch darum, dass der Staat den Menschen, die die Arbeit nicht mehr leisten konnten, im Sinne dessen, was man erwartet, ihnen finanzielle Hilfen gibt, an der Stelle.

Anne Waldschmidt: Genau, man unterstützte sie. unter die Krüppel, das finde ich auch sehr interessant, eigentlich unter die Krüppel fielen lediglich arme, beeinträchtigte Menschen, die nicht ihre Beeinträchtigung durch den Krieg oder Arbeitsunfall erworben hatten. Parallel hat man dann nämlich noch ein weiteres Gesetz geschaffen, auch 1920. Und zwar war das das sogenannte "Schwerbeschädigtengesetz".

Also die anderen, die als privilegiert galten, denn sie hatten ja im Dienste der Allgemeinheit ihre Beeinträchtigung erworben. Sie hatten im Dienst der Allgemeinheit ihre Gesundheit verloren und Funktionstüchtigkeit oder Arbeitsfähigkeit. Und diese Person nannte man dann "Schwerbeschädigte."

Jingle

Anne Waldschmidt: Was mir auch noch wichtig ist, das wird oft übersehen, aber wir müssen uns auch klar machen, dass tatsächlich im Nationalsozialismus auch entscheidende Schritte unternommen wurden, um die beiden Wörter "Behinderte" und "Behindert" in der Rechtssprache zu benutzen. Das ist nämlich auch sehr interessant. 

Eigentlich kann man sagen: Die Nationalsozialisten haben erstmalig diesen Begriff "Behinderung" als Oberbegriff eingeführt, nämlich im Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens von 1934 und im Reichs-Schulpflicht-Gesetz von 1938. Jedes Mal wird da als Sammelbezeichnung der Begriff entweder "behinderte Kinder" oder halt auch "körperlich Behinderte" benutzt bzw. im Reichs-Schulpflichtgesetz  heißt es dann "geistig und körperlich behinderte Kinder". 

Da ging es im Prinzip um die Aussetzung der Schulpflicht für die Kinder, bei denen man davon ausging, dass sie sowieso nicht schulfähig oder bildungsfähig seien. Man Unterschied zwischen bildungsfähigen und damit auch potenziell arbeitsfähigen, behinderten Menschen auf der einen Seite. Und parallel installierte man ja auch die rassenhygienischen Maßnahmen. Stichworte wären hier: "Zwangssterilisation", "Euthanasie", weil man die Krüppel, Idioten, "die Nutzlosen" sozusagen, die als "lebensunwertes Leben" galten, möglichst eindämmen wollte von der Zahl her und ja dann auch tatsächlich massenhaft ermordet hat auf sehr brutale Weise.

Matthias Klaus: Diese Idee "des unwerten Lebens" ist ja doch spezifisch nationalsozialistisch, oder ist das falsch?

Anne Waldschmidt: Also die Nationalsozialisten haben das schon sehr radikalisiert, dieses Gedankengut. Aber man muss schon festhalten, dass bereits am Ende des 19. Jahrhunderts die Idee "der Eugenik" entstand, auch diese Idee "der Reinheit".

Man wollte sich von "minderwertigem Erbgut" befreien, solche Menschen, fortpflanzungsuntüchtige Menschen, sollten möglichst an der Fortpflanzung gehindert werden. Auf der einen Seite gab es die sogenannte "negative Eugenik", auf der anderen Seite wollte man die "genetisch wertvollen" fördern und deren Fortpflanzung fördern. Dass ist die sogenannte "positive Eugenik".

Und es gab ja auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits eine Diskussion über Sterilisation von diesen Personengruppen, wozu dann auch zum Beispiel blinde Menschen gehörten, deren Blindheit als genetisch verursacht galt - oder Körperbehinderte natürlich auch, aber natürlich vor allem auch Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung.

Man kann festhalten, dass im Nationalsozialismus der eugenische Gedanke dann eine Radikalisierung erfuhr als wirklich brutalste und grausame Rassenhygiene, die ja dann auch noch vom Staat durchgeführt wurde.

Jingle

Matthias Klaus: Wir sind jetzt nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik mit ihren entstehenden Sozialsystemen. Das Wort "behindert" taucht allmählich auf. Manche sagen noch "schwer beschädigt". Es gibt das Wort "versehrt". Jetzt wird aber das Wort "behindert" etabliert. Was ist dann geschehen? Wie ist dann das Sozialsystem entstanden oder das, was wir heute haben?

Anne Waldschmidt: Zu Beginn der 70er Jahre kam es zu einer grundlegenden Reform der Behindertenpolitik, kann man sagen. Man hat nämlich das Schwerbeschädigtengesetz, das bis dahin noch galt, dass man in den 50er Jahren 1953 aus der Weimarer Republik übernahm und wieder betitelte mit Schwerbeschädigtengesetz. Und auch die Krüppel-Fürsorge hat man im Wesentlichen übernommen.

Nur hat man sich dann in den 1950er Jahren gegen die Verwendung des Wortes "Krüppel" gewandt oder entschieden und hat dann 1957 das sogenannte Körperbehindertengesetz geschaffen. Das war wirklich ein Fürsorgegesetz. Aber dieses Körperbehindertengesetz von 1957 hatte eine kurze Geschichte, weil das ist bereits 1961 in das dann neu geschaffene Bundessozialhilfegesetz übergegangen.

Und jetzt (ein ganz wichtiger Meilenstein) in dem neuen Bundessozialhilfegesetz von 1961 gab es ein eigenes Kapitel, nämlich die sogenannte "Eingliederungshilfe für Behinderte". Dann kam es ja zu einer Phase des gesellschaftlichen Wandels: Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt schrieb sich auf die eigene Agenda, die Modernisierung der Behinderten- und Rehabilitationspolitik.

Das wurde dann auch angegangen. Man installierte nämlich statt des Kausalprinzips das sogenannte "Finalprinzip". Und zwar wollte man diese Differenzierung und auch Unterschiedlichkeit der Hilfen überwinden.

Matthias Klaus: Was wir dann ja hatten ist, dass das Wort "behindert" wirklich für eine sehr große Gruppe von Menschen verwendet wurde, die man so zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung ansiedelt und vielleicht sogar mehr.

Es kommt ja immer darauf an, wie man das rechnet. Ich habe ein Zitat gelesen vorhin, da stand drin: "Wenn wir alle nur alt genug werden, dann sind wir alle irgendwann behindert." Da haben wir jetzt ein Problem. Das heißt: Die Abgrenzung von Behinderung zu Krankheit oder auch zu (na ja, am Ende des Lebens hat man nun mal das eine oder andere) ist ja da dann doch sehr durchlässig. Wie grenzt man das jetzt ab? Wann bin ich denn "behindert"? Und also jetzt nicht nur aus dem gesetzlichen, sondern auch aus dem allgemeinen Verständnis heraus. Und wann bin ich zum Beispiel "krank"? 

Anne Waldschmidt: Das ist halt schwierig zu bestimmen. Also erst mal unterscheidet man zwischen einerseits sogenannter "akuter Krankheit" und andererseits "Behinderung". Man geht davon aus, dass eine Krankheit, von der man wiederum genesen kann, also deren Heilung möglich ist, nicht zu einer Behinderung gehört. Das wird auch unterstützt von den gesetzlichen Bestimmungen.

Das aktuelle Sozialgesetzbuch IX ist übrigens eine Weiterentwicklung des Schwerbehindertengesetzes von 1974 und wir haben es seit 2001. Vor kurzem wurde es dann noch mal novelliert und überarbeitet und erneuert. Jedenfalls das Sozialgesetzbuch IX, wie auch das Schwerbehindertengesetz und so weiter bestimmen, dass eine Krankheit zu einer chronischen Krankheit und damit potenziell zu einer Behinderung wird, wenn sie länger als sechs Monate dauert.

Neben dem Begriff der akuten Krankheit gibt es ja auch den Begriff der "chronischen Krankheit". Also man kann festhalten, es ist vielleicht noch einigermaßen leicht möglich, zwischen "akuter Krankheit" und "Behinderung" zu unterscheiden. Aber es wird dann schon sehr schwierig mit "chronischer Krankheit", die ja durchaus länger als sechs Monate dauern kann, Jahre teilweise und auch nicht behandelbar ist - sehr häufig. Da kann man eigentlich nicht wirklich eine klare Grenzziehung machen.

Also viele chronisch kranke Menschen gehören offiziell, sozialrechtlich, wenn sie sich darum bemühen und wenn sie auch den entsprechenden Status bekommen zur Gruppe der "Behinderten" oder "Schwerbehinderten". Und bei Alter ist es genauso. Man geht davon aus, dass eine gewisse "Gebrechlichkeit", das ist ein altmodisches Wort, mal so in Anführungszeichen, zum normalen Altern dazugehört. Wenn diese Gebrechlichkeit dann aber mündet in umfangreichen Beeinträchtigungen schwerer Art, dann können die Betroffenen durchaus einen Schwerbehindertenantrag stellen und auch einen entsprechenden Status bekommen.

Wer entscheidet das? Im Prinzip die Mediziner und Medizinerinnen, die begutachten, weil der offizielle Status ja immer dann erst vergeben wird oder einem zugerechnet wird, wenn man entsprechend begutachtet worden ist und dann einen entsprechenden behördlichen Bescheid kommt und den entsprechenden Ausweis.

Sie haben eben die Zahl genannt, also 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung gelten als behindert bzw. als schwerbehindert. Das ist richtig, entsprechend den offiziellen Statistiken. Wenn man dann die Statistiken ein bisschen auffächert nach Altersgruppen, wird man feststellen: Die weitaus größte Gruppe unter den offiziell schwerbehinderten Menschen in Deutschland ist älter als 55, teilweise noch älter als 75. Also es gibt da ganz klar eine Überproportionalität von älteren Menschen.

Das hat historische Gründe. Aber es hat sicherlich auch Gründe, dass man sagen kann: Die meisten Menschen, die offiziell als "schwerbehindert" oder "behindert" gelten, haben ihre Beeinträchtigung im Laufe ihres Lebens erworben. Damit ist klar, dass Alter sehr stark mit der Behinderung zusammenhängt und gar nicht so eindeutig zu trennen ist.

Matthias Klaus: Behinderung ist ja inzwischen ein Begriff, der auch nicht zuletzt dank der Disability Studies und vielleicht auch der diversen Aktivisten positiv besetzt wird und den man sich zurückholt und der vielleicht dieses ein wenig verliert: "Wir sind behindert",  "Wir haben einen Mangel".

Dieser Begriff wird aber dennoch insbesondere in gewissen jüngeren Kreisen immer benutzt als etwas sehr Abfälliges. Das ist in den letzten zehn Jahren eigentlich noch verstärkt geworden. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum gerade in den letzten Jahren das Wort "behindert" wieder so als Beleidigung verwendet wird?

Anne Waldschmidt: Das ist interessant. Eine richtige Erklärung hätte ich da auch nicht für. Das müsste man eigentlich mal empirisch untersuchen. Also unter der Hand: Tatsächlich, das Spannende ist ja (und das hatte ich auch vorher schon mal versucht anzudeuten): Viele Begriffe, die eigentlich deskriptiv gemeint sind und entsprechend eingeführt wurden, auch in ihn neutralisierender Absicht [ändern im Sprachgebrauch ihre Wertung].

Der Begriff "Behinderung" sollte eigentlich dazu dienen, die abfälligen, abschätzigen, herabwürdigenden alten Bezeichnungen zu verdrängen, sozusagen unnötig zu machen, sie zurückzudrängen aus dem Sprachgebrauch. Man wollte eigentlich eine deskriptive Bezeichnung haben.

Das Merkwürdige ist, dass dann unter der Hand, wenn man so will, quasi subversiv sich die normative Bedeutung oder der normative Gehalt eigentlich... Das die Beeinträchtigung als eine, ja... als eine benachteiligende Differenzkategorie unter der Hand wieder herausgebildet hat. Und sie feiert fröhliche Urständ.

Und ich beobachte das auch in den letzten zehn, aber vielleicht auch schon seit zwanzig Jahren tendiert "behindert/behindert sein" zum Schimpfwort in bestimmten Communities oder Kontexten oder Situationen. Das finde ich super interessant, aber ich hätte dafür auch keine größere, also keine handfeste, wirklich überzeugende Erklärung.

Was ich ganz interessant finde ist, das mit den Disability Studies, ja, so eine gewisse Modernisierung der Bezeichnungspraxis auch zu verzeichnen ist, auch wenn das wahrscheinlich noch nicht so weit verbreitet ist. Und wenn man dann mal über die Unterschiede nachdenkt zwischen dem englischen Begriff "Disability" und dem deutschen Begriff "Behinderung" (die werden entsprechend immer gegenseitig benutzt bei Übersetzungen), dann muss man festhalten, dass es eigentlich um ganz unterschiedliche Begriffe geht, die auch unterschiedliche Konnotationen, also Assoziationen hervorrufen: Bei dem englischen Begriff "Disability" geht es im Grunde um "unfähig sein". Nämlich "dis-" also: "un". "ability": das bedeutet ja eigentlich "Fähigkeit". Also eigentlich geht es im Englischen um "Unfähigkeit".

Matthias Klaus: Haben die Disability Studies da irgendeinen Vorschlag, welchen schöneren Begriff wir den verwenden könnten?

Anne Waldschmidt: Ja, ich finde ehrlich gesagt, wir sollten vielleicht über den deutschen Begriff noch mal nachdenken, weil darauf habe ich ja eben verwiesen mit meinem Hinweis auf das Grimmsche Wörterbuch der deutschen Sprache.

Im Prinzip steckt ja der Barrierebegriff in dem deutschen Behinderungsbegriff und der Begriff der Barriere ist ja nun gerade stark gemacht worden von der UN-Behindertenrechtskonvention. Da gilt nämlich ja auch: Behinderung ist nicht einfach ein Zustand, sondern entsteht als Folge einer Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigungen und Barrieren.

Das beschreibt eigentlich sehr schön den Kerngehalt des Wortes "Behinderung". Wir wollen ihn heute nicht mehr verwenden, weil die Begriffsgeschichte sehr problematisch ist - tatsächlich. Und natürlich wissen wir auch, dass im Sprachgebrauch der Behinderungsbegriff kaum mehr deskriptiv verwendet werden kann, sondern immer sehr stark ein Werturteil, also negatives Urteil auch über die Personengruppen, die es bezeichnen soll, beinhaltet. 

Aber im Prinzip könnte man sagen: "Eigentlich würde ich mich eher als behindert bezeichnen. Das heißt, ich habe Barrieren im Leben, mit denen ich umgehen muss, als dass mich jemand als ja unfähig bezeichnet." Im Grunde sage ich mal: Die Geschichte, des Behinderungsbegriffs ist ja nicht zu Ende.

Ich hoffe also noch auf ganz viele konstruktive und innovative Ideen und auch Weiterentwicklung und da können wir uns sicher sein, dass wenn wir das Interview einfach in zehn Jahren noch mal führen, dass wir dann vielleicht über ganz andere Vokabeln und Begriffe reden und vielleicht fast das gleiche Feld meinen, über das wir heute gesprochen haben.

Matthias Klaus: Das sagt die Soziologin Prof. Dr. Anne Waldschmidt von der Uni Köln, vom Forschungs- und Lehrbereich Disability Studies zum Thema Behinderung und darüber, wie sich der Behinderungsbegriff in der nächsten Zeit vielleicht auch noch wandeln wird. Frau Prof. Waldschmidt, ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie Zeit für uns hatten und hoffe, dass Sie noch viel ertragreiches dort forschen, was auch uns Menschen mit Behinderung im Alltag nützen kann.

Anne Waldschmidt: Herr Klaus, ich bedanke mich bei Ihnen und wünsche dem Podcast, der Podcast Reihe gutes Gelingen.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias Klaus.

Jingle: Sprecher: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

 

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.