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Traditionelle Medizin: WHO will Ayurveda und Co. regeln

16. August 2023

80 Prozent der Weltbevölkerung nutzen Traditionelle Medizin. Auch Medikamente wie Aspirin basieren auf Naturprodukten. WHO-Standards sollen der Politik als Entscheidungsgrundlage dienen.

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Wappen der Weltgesundheitsorganisation
In 170 Mitgliedstaaten der WHO spielt traditionelle Medizin eine große Rolle. Sie fordern verbindliche Standards und Handlungsempfehlungen.Bild: XinHua/picture alliance

Seit Jahrtausenden ist die Traditionelle Medizin weltweit ein integraler Bestandteil der Gesundheitsversorgung. Aus tiefer Überzeugung oder aus Ermangelung anderer Medikamente nutzen 80 Prozent der Weltbevölkerung heutzutage eine Form von Traditioneller Medizin. So viele unterschiedliche Krankheiten oder Leiden es gibt, so unterschiedlich sind auch die Behandlungsmethoden der Traditionellen Medizin mit Kräutermischungen, Akupunktur, Massagen und vielem mehr.

Erstmals richtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jetzt einen Weltgipfel für Traditionelle Medizin aus, gemeinsam mit der indischen Regierung, die 2023 den G20-Vorsitz innehat. Der Gipfel findet am Rande der G20-Gesundheitsministertagung am 17. und 18. August 2023 in Gandhinagar in Gujarat statt.

Welten prallen aufeinander

Gleichzeitig stehen sich beim Thema Traditionelle Medizin Befürworter und Zweifler unversöhnlich gegenüber. Deshalb erinnert die WHO im Zuge der Ankündigung des Gipfels daran, dass Traditionelle Medizin auch in der modernen Wissenschaft vertreten ist. Rund 40 Prozent aller heute zugelassenen Arzneimittel basieren nach WHO-Angaben auf Naturprodukten. Die Entdeckung von Aspirin etwa habe sich auf alte Rezepturen aus Weidenbaumrinde gestützt. Die Forschung über Artemisinin zum Einsatz gegen Malaria, für die 2015 der Nobelpreis vergeben wurde, habe mit einem Studium alter Texte zu chinesischer Medizin begonnen.

Bei vielen Mitteln aber fehlt der Beweis, dass sie überhaupt eine Wirkung haben. Trotzdem ist etwa die chinesische Nachfrage tierischer Bestandteile der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) so gewaltig, dass bestimmte Tierarten wie Tiger, Nashörner, Seepferdchen und Schuppentiere (Pangoline) vom Aussterben bedroht sind.

Seit Jahren kauft China für hunderte Millionen Dollar weltweit Esel auf, weil aus Eselknochen und -häuten die Gelantine Ejiao gewonnen wird, die Blutungen stoppen sowie Husten und Krebs bekämpfen soll. Beweise für eine tatsächliche Wirkung dieser Präparate gibt es nicht. Entsprechend skeptisch betrachten vor allem westlich ausgebildete Ärzte und Forscher die TCM-Praktiken.

Wildtierhandel: Schuppentiere in Not

Was ist das Ziel des Weltgipfels?

Die Weltgesundheitsorganisation definiert Traditionelle Medizin als "Wissen, Fertigkeiten und Methoden, basierend auf einheimischen Vorstellungen, Glaubensinhalten und Erfahrungen verschiedener Kulturen, die zur Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten eingesetzt werden." Eine eher schwammige Definition also.

Derzeit wird Traditionelle Medizin in 170 Mitgliedstaaten der WHO verwendet und die hatten um Nachweise und Daten gebeten, die als Grundlage für politische Maßnahmen, Normen und Vorschriften für ihre sichere, kosteneffiziente und gerechte Verwendung dienen sollen.

Der erste Weltgipfel soll deshalb nicht nur die verschiedenen Akteure im Bereich der Traditionellen Medizin zusammenbringen, sondern auch Standards für traditionelle Medizinpraktiken und -produkte festzulegen sowie eine zuverlässige Beweisgrundlage für die Politik schaffen. Es soll also untersucht werden, ob es deutliche Abweichungen zwischen empfundener und tatsächlicher Hilfe durch alternativen Heilmethoden gibt. Glaubt jemand nur, dass eine Heilmethode wirkt oder lässt sich diese Wirkung auch beweisen?

Außerdem soll diskutiert werden, wie sich der Einsatz von moderner Technologie wie Künstlicher Intelligenz und Big Data auch bei der Traditionellen Medizin genutzt werden kann.

Indien als ein Zentrum für Traditionelle Medizin

Dass der erste Weltgipfel der WHO zur Traditionellen Medizin in Indien stattfindet, kommt nicht von ungefähr. Vor allem Ayurveda, was auf Sanskrit so viel wie "Das Wissen des Lebens" bedeutet, ist in Südasien seit über 2.000 Jahren Volksmedizin und damit eines der ältesten naturheilkundlichen Systeme der Menschheit. In Indien ist Alternativmedizin so wichtig, dass es sogar ein eigenes AYUSH-Ministerium für Ayurveda, Yoga, Naturheilkunde, Unani, Siddha und Homöopathie gibt.

Als Reaktion auf das wachsende weltweite Interesse hatte die WHO im März 2022 im indischen Jamnagar das Globale WHO-Zentrum für Traditionelle Medizin eingerichtet, das alte Weisheiten und moderne Wissenschaft für die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen und des Planeten zusammenführen soll. Indiens nationalkonservative Regierung hat das Zentrum mit 250 Millionen US-Dollar (230 Millionen Euro) unterstützt. "Das Zentrum soll ein Motor der Innovation sein, um eine Agenda für Belege, Daten und Nachhaltigkeit in der Traditionellen Medizin voranzubringen", so WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Traditionelle chinesische Medizin gegen Corona

Skepsis und begrenzte Forschungsgelder

Sich über Jahrhunderte entwickelte Heilverfahren zumindest mal genauer anzusehen, auf Plausibilität zu prüfen und im Zweifelsfall dazu gute klinische Studien durchzuführen, erscheine sinnvoll, sagt Georg Rüschemeyer von Cochrane, einem internationalen Netzwerk, das wissenschaftliche Reviews erstellt, die die wissenschaftliche Evidenz zu einer konkreten Fragestellung aus der Medizin zusammenfassen und Grundlagen für Entscheidungen im Gesundheitswesen bereitstellt.

Rüschemeyer betonte jedoch der Deutschen Presseagentur gegenüber auch, dass man neben den von der WHO erwähnten Beispielen wie Aspirin oder Artemisinin vermutlich auch zahlreiche Beispiele finden könne, in denen sich traditionelle Verfahren bei genauerer Überprüfung als unwirksam oder gar gefährlich erwiesen - Stichwort Aderlass. "Aus meiner persönlichen Erfahrung bei Cochrane würde ich sagen, dass mir noch nicht viele solche Cochrane Reviews untergekommen sind, die wirklich überzeugende Evidenz für ein traditionelles Verfahren zeigten", sagt Rüschemeyer.

Das liege aber auch daran, dass es bislang für manche traditionellen Behandlungsmethoden nur wenige und oft schlecht gemachte Studien gebe, die einen Nutzen weder be- noch widerlegen könnten. Ob ein Verfahren rechtfertige, viel Geld in überprüfende Studien zu stecken, sei immer eine wichtige Abwägungsfrage. Der WHO-Gipfel zur Traditionellen Medizin könnte helfen, Antworten zu finden.

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund