1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Tod eines unbequemen Zeitgenossen

Richard A. Fuchs, Berlin (mit Agenturen)13. April 2015

Vertreter aus Politik und Gesellschaft haben das Lebenswerk von Litertaturnobelpreisträger Grass gewürdigt. Auch die SPD, deren Mitglied er lange war, verneigt sich. Dabei forderte Grass die Partei immer wieder heraus.

https://p.dw.com/p/1F7GY
Günter Grass bei einer Rede im April 2009 vor der Willy-Brandt-Statue in der SPD-Zentrale in Berlin (Foto: Imago/suedraumfoto)
Günter Grass bei einer Rede im April 2009 vor der Willy-Brandt-Statue in der SPD-Zentrale in BerlinBild: Imago/suedraumfoto

Am Willy-Brandt-Haus in Berlin wurden die Fahnen an diesem Montag auf Halbmast gesenkt. Eine Schweigeminute folgte. Dann gedachte das SPD-Präsidium mit Günter Grass einem Verstorbenen, der Werbeträger und Störenfried für die deutsche Sozialdemokratie gleichermaßen war. "Die SPD verneigt sich vor Günter Grass", schrieb SPD-Parteichef Sigmar Gabriel in seinen Kondolenzbrief an die Ehefrau des deutschen Literaten. Günter Grass gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, der mit seinem Roman "Die Blechtrommel" aus dem Jahr 1959 schlagartig berühmt wurde. 1999 erhielt er für sein Lebenswerk den Literaturnobelpreis.

"Beeindruckender Spiegel unseres Landes"

Grass war am Montag in einem Lübecker Krankenhaus an einer Lungenentzündung verstorben – was jetzt zu Reaktionen in Politik und Gesellschaft geführt hat. "Sein Werk ist ein beeindruckender Spiegel unseres Landes und ein bleibender Teil seines literarischen und künstlerischen Erbes", würdigte Bundespräsident Joachim Gauck den Verstorbenen, der 1927 als Sohn einer Kaufmannsfamilie im polnischen Danzig geboren war. Grass sei, so Gauck in seinem Kondolenzbrief, "zeitlebens ein streitbarer und eigenwilliger politischer Geist" geblieben. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hob in ihrem Kondolenzschreiben hervor: "Mit dem Tod von Günter Grass verliert die Bundesrepublik Deutschland einen Künstler, von dem ich mit tiefem Respekt Abschied nehme". Und auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker würdigte Grass, der als Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker einer der ganz "großen Europäer" gewesen sei. "Er konnte hart in der Sache sein, immer mit dem Willen, seinen Finger auch in schmerzhafte Wunden zu legen", so Juncker.

Vielfach bekam die verbale Härte des Weltliteraten und Mahners für Moral und Menschlichkeit vor allem jene Partei ab, die ihm politisch nahe stand. Denn die Sozialdemokraten, deren Mitglied und Vordenker Grass über lange Jahre war, wurden von Grass gerne und immer wieder scharf angegangen. Er geißelte ihren politischen Kurs öffentlich, wenn der seinen Idealen widersprach. 1992 trat Grass aus der Partei aus, als Reaktion auf den für ihn damals faulen Asylkompromiss seiner Partei.

NS-Vergangenheit, Twitter-Verbot in der Türkei oder Diskriminierung von Homosexuellen: Grass erhob bei vielen Themen die Stimme. Und er teilte in alle politischen Richtungen aus, auch in die eigene. Dem Gedenken an den streitbaren Sozialdemokraten Grass war das jetzt nicht anzumerken. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel trat kurz nach der Schweigeminute vor die Presse, voll des Lobes: "Wir haben mit ihm nicht nur einen der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsgeschichte verloren, sondern auch einen großen Freund der Sozialdemokratie.

Günter Grass und Willy Brandt
Seite an Seite mit Willy Brandt: Später gingen die SPD und Grass oft getrennte WegeBild: picture-alliance/ dpa

SPD und Grass – ein schwieriges Verhältnis

Ein oftmals unbequemer Freund, das mussten die Sozialdemokraten immer wieder erleben. Grass war Ratgeber, Wahlkämpfer und Vordenker für die Sozialdemokratie. In den 1960er und 70er Jahren zog er für die SPD in den Wahlkampf. Doch er versuchte 1966 auch in einem offenen Brief, den späteren Bundeskanzler Willy Brandt von der großen Koalition mit der CDU abzuhalten.

Nach seinem Parteiaustritt 1992 blieb Grass der SPD gewogen – genauso wie die Partei ihm. Doch das Verhältnis war gespannt und bisweilen geprägt durch heftige Kontroversen. Dazu trug auch ein Israel-kritisches Gedicht von Grass bei, welches er unter dem Titel "Was gesagt werden muss" 2012 veröffentlichte. Grass warf darin der "Atommacht Israel" vor, den ohnehin brüchigen Weltfrieden zu gefährden. Kritik war vorprogrammiert, aus allen politischen Himmelsrichtungen. Nicht wenige warfen dem Literaten blanken Antisemitismus vor, andere hielten seine Äußerungen für ein Zeichen von Altersverwirrung.

Stellungnahmen des Verbands hebräisch-sprachiger Schriftsteller in Israel nach seinem Tod zeigen, wie sehr Grass polarisierte. Gegenüber der Nachrichtenagentur DPA warf der Vorsitzende des Verbandes, Herzl Chakak, dem deutschen Literaten vor, einen "modernen Kreuzzug" gegen den jüdischen Staat geführt zu haben. "Bis zu seinem Tod hat Günter Grass keine Reue über seine harten anti-israelischen Äußerungen gezeigt", so Chakak. Auch die SPD spaltete die Kontroverse um Grass – wieder einmal. Während manche ihn zur unerwünschten Person in der Partei erklärten, stellten sich andere demonstrativ hinter das streitbare Genie. Offen wurde die Frage diskutiert, ob Grass in SPD-Wahlkämpfen noch eine Hilfe oder eher eine Belastung sei. Für Sigmar Gabriel ist der Rückblick auf diese Zeit mit Grass wenig schmerzhaft. Politisch korrekt hielt er Grass zugute, die SPD immer kritisch und im besten Sinne aufklärerisch begleitet zu haben.

Gerhard Schröder und Günter Grass
SPD-Wahlkampfhelfer Grass: Bei Gerhard Schröder im Jahr 2002 funktionierte das nochBild: AP

Eine moralische Instanz – mit Moralproblemen

Günter Grass wird seinem Publikum als älterer Herr mit Schnurrbart, Lesebrille und Pfeife im Mund in Erinnerung bleiben. Als eine moralische Instanz, die in den letzten Jahren immer wieder vor einem zügellosen Kapitalismus gewarnt hat. Dabei forderte er die SPD auf, mit mehr Mut dem Kapitalismus Fesseln anzulegen. "Die SPD sollte ihrer Tradition folgen und sich zum Sprecher einer solch grundlegenden Veränderung machen", so Grass im Herbst 2011 im Willy-Brandt-Haus. Doch die moralische Instanz Grass hatte zuletzt selbst Glaubwürdigkeitsprobleme. Denn in seinem autobiografischen Werk "Beim Häuten der Zwiebel" aus dem Jahr 2006 gab Grass bekannt, sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet zu haben und dann als 17-Jähriger Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Das hatte er in den Jahren davor stets verschwiegen, beziehungsweise anders dargestellt.

Egon Bahr trauert in Stille

Während über die Jahre viele politische Weggefährten von Grass abrückten, überdauerten andere Freundschaften. Egon Bahr war langjähriger Weggefährte und Freund des Verstorbenen. Gemeinsam prägten Grass und er zahlreiche Bonmots, die später dem SPD-Bundeskanzler Willy Brandt zugeschrieben wurden. Darunter der Slogan "Mehr Demokratie wagen", ein Aufruf zu mutigen demokratischen Reformen, der eine ganze Generation prägte.

In der Trauer wollte Bahr allerdings alleine sein. Er bat die Deutsche Welle um Verständnis, dass er sich zum Tod seines Freundes nicht äußern wolle. Nur soviel hieß es aus seinem Büro im Willy-Brandt-Haus: Dieser Tod fasst Herrn Bahr sehr an. Eines ist mit dem heutigen Tage aber in jedem Fall bereits sicher: Günter Grass wird auch nach seinem Tod noch einmal für Schlagzeilen sorgen. Der Verleger des Literaturnobelpreisträgers kündigte an, dass im Sommer ein letztes Buch von Grass mit dem Titel "Von Endlichkeit" erscheinen soll. Grass hatte die Arbeit an dem Buch kurz vor seinem Tod abgeschlossen, so der Göttinger Verleger Gerhard Steidl. Ob Grass also auch nach seinem Tod für seine sozialdemokratische Partei ein unbequemer Begleiter bleiben wird, das wird erst die Lektüre dieses Buches zeigen.

Egon Bahr
Weggefährte trauert: Egon BahrBild: Friedrich-Ebert-Stiftung