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Politik

"Bis zum lieben Gott fressen dich die Heiligen"

Robert Schwartz Berlin | Cristian Stefanescu Bukarest | Adrian Mogos Bukarest
2. Juli 2020

Immer mehr Menschen wagen es, über Zustände im Fleischbetrieb Tönnies und Machenschaften beteiligter Subunternehmen zu reden. Die rumänische DW-Redaktion ist den Informationen in Deutschland und Rumänien nachgegangen.

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Der Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück ist zum Corona-Hotspot geworden
Bild: picture-alliance/dpa/B. Thissen

"Wir arbeiten bei Tönnies, sind in Quarantäne, niemand kümmert sich um uns!" Seit Tagen wird die rumänische Redaktion der DW mit solchen und ähnlichen Appellen aus dem Landkreis Gütersloh in Nordrhein-Westfalen überschwemmt. Seitdem Kolleginnen und Kollegen ausführlich über die prekäre Arbeits- und Wohnungssituation der sogenannten Werkverträgler aus Rumänien berichten, sind wir zu einer zentralen Anlaufstelle geworden für die vielen Frauen und Männer, die sich in der Corona-Krise im Stich gelassen fühlen - sowohl vom größten Schlachthofbetreiber Deutschlands, Tönnies, als auch von den rumänischen Subunternehmern, über die sie beschäftigt werden.

Am Telefon erzählen sie ausführlich über die Schwerstarbeit im Schlachthof und den rauen Ton dort, über mangelnde Schutzmaßnahmen und die oft menschenunwürdigen Zustände in ihren Wohnungen. Und über die plötzliche Quarantäne, in der sie alleine gelassen wurden. All das, worüber unsere Kolleginnen und Kollegen seit Tagen aus der Region berichten, wird immer und immer wieder in den Gesprächen bestätigt. Langsam lüftet sich der dunkle Schleier, der seit Jahren über dem Geflecht von Abhängigkeiten, Drohungen und schlechter Bezahlung bis hin zur Ausbeutung liegt.

Eine einfache Masche

Einige unserer Gesprächspartner schildern ihre Erfahrungen ruhig, andere sind aufgeregt. Bei ihren Anrufen sind oft Stimmen im Hintergrund zu hören. Stimmen von Menschen, die auch zu Wort kommen wollen. Viele sind seit Jahren bei Tönnies beschäftigt, andere erst seit einigen Monaten. Über rumänische Subunternehmer seien sie nach Deutschland gekommen, erzählen sie. Subunternehmer, die - wie DW-Recherchen in Rumänien und Deutschland zeigen - über ihre Firmen zu Hause und hierzulande Zehntausende Frauen und Männer aus Rumänien in der gesamten Bundesrepublik als günstige Arbeitnehmer vermitteln.

Die Masche läuft denkbar einfach: Über Anzeigen in Rumänien werden Arbeitskräfte gesucht - für Spargelstechen, Erdbeerernte oder Schlachthöfe. Dann wird noch im Herkunftsland ein Vertrag fertiggemacht. Der kostet den Arbeitnehmer für gewöhnlich 100 Euro. Auch die Transportkosten per Bus müssen oft vom Arbeitnehmer beglichen werden (240 Euro für Hin- und Rückreise). 

Schlechte Wohnbedingungen in Sammelunterkünften
Schlechte Wohnbedingungen in Sammelunterkünften Bild: DW/M. Soric

Der Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde wird garantiert, heißt es in allen Annoncen. Allerdings werden 7 Euro pro Tag Wohnkosten - also rund 200 Euro für ein Bett in der Sammelunterkunft - und weitere "Nebenkosten" fällig. Obwohl laut Vertrag versprochen wird, Überstunden extra zu bezahlen, finden sich diese nicht immer auf dem monatlichen Lohnzettel: viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erzählen, dass sie 700 bis 900 Euro netto pro Monat verdient hätten. In einigen Fällen sei ein Teil der Überstunden bar "auf die Hand" ausgezahlt worden - also am deutschen Fiskus vorbei.

Geld nach Hause schicken für die ganze Familie

Trotz der prekären Bedingungen in den Schlachthöfen und Unterkünften: einige der Frauen und Männer, mit denen wir gesprochen haben, waren nicht ganz unzufrieden mit ihrem Lohn. Auch wenn viele "schon immer das Gefühl" gehabt hätten, um einen Teil ihres Lohns betrogen worden zu sein. Er sei dennoch doppelt so hoch wie zu Hause, sagen sie. Falls man dort überhaupt eine Arbeit findet. Von dem Geld, das sie Monat für Monat nach Hause schickten, sei ihre ganze Familie abhängig.

Den Mut, nachzufragen, ob auch alles auf dem Lohnzettel richtig sei, hatten die Wenigsten. Wagten sie es dennoch, hätten Schichtleiter, Vorarbeiter und Subunternehmer - allesamt ebenfalls Rumänen - immer und für alles eine Erklärung parat gehabt. Bis hinauf zu den deutschen Vorgesetzten oder gar zum "großen Chef" hätte es sowieso keinen Zugang gegeben. "Bis zum lieben Gott fressen dich die Heiligen" - dieser bekannte rumänische Spruch kehrt häufig in unseren Gesprächen zurück.

Und noch etwas wird klar: nicht alle Subunternehmer stehen pauschal in der Kritik. Es seien aber die vielen "schwarzen Schafe", denen endlich das Handwerk gelegt werden müsse, hören wir immer wieder. Ein Unternehmen wird dabei auffallend oft genannt: MGM, eine Agentur in Ostwestfalen, deren Eigentümer Dumitru Miculescu heißt.

Gut vernetzter Geschäftsmann aus Rumänien

Die Recherchen in Rumänien zeigen, dass Miculescu mehrere Firmen in Deutschland und Rumänien kontrolliert, die von Arbeitsvermittlung bis hin zu Immobilien breit aufgestellt sind. Seine Karriere begann im südrumänischen Landkreis Dâmbovița mit einer Schweine- und Geflügelzucht. Laut übereinstimmenden Medienberichten wurde er 2011 in einem Korruptionsprozess rechtskräftig zu einer anderthalbjährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Trotzdem liefen Miculescus Geschäfte ungehindert weiter. Gut vernetzt konnte der Geschäftsmann Familienmitglieder und Freunde in wichtige Ämter platzieren - und so ein Geflecht von Firmen, lokalen Medien und staatlichen Behörden kontrollieren.

Als erfolgreicher Unternehmer wurde Miculescu auch politisch aktiv. Je nach Interessenslage in der Region wechselte er dabei mehrmals querbeet die Parteizugehörigkeit, von links nach rechts und zurück. Unliebsame Konkurrenten und politische Gegner soll er mehrfach unter Druck gesetzt und sogar bedroht haben, wird uns berichtet. Genützt hat es ihm scheinbar nicht viel: Ohne sichtliche Erfolge kehrte Miculescu der Politik 2016 den Rücken. Seitdem konzentriert er sich auf sein stetig wachsendes Firmen-Netzwerk in Deutschland.

Miculescus Ruf, Kritiker zu bedrohen und Arbeitnehmer unter Druck zu setzen, begleitet ihn auch in Ostwestfalen. Mit seinem erfolgreichen "Geschäftsmodell" - inklusive Lohndumping und Wuchermieten in den eigenen Immobilien für "seine" Werkverträgler - geriet Dumitru Miculescu auch in Deutschland in die Schlagzeilen, vor fünf Jahren in der Zeit, in den letzten Tagen im "Kölner Stadt-Anzeiger" oder im "Spiegel". Eine Interviewanfrage der DW blieb leider erfolglos.

Rumänische Arbeiter wollen wieder kommen

In wenigen Tagen soll die Quarantäne bei Tönnies aufgehoben werden, die Fleischfabrik soll den Betrieb wieder aufnehmen. Einige der Arbeiter, mit denen wir gesprochen haben, sind kurz vor dem Lockdown zurück nach Rumänien gefahren und wollen nicht wieder bei Tönnies arbeiten.

Quarantäne in Verl, wo viele Tönnies-Arbeiter wohnen
Quarantäne in Verl, wo viele Tönnies-Arbeiter wohnen Bild: picture-alliance/AP Images/M. Meissner

Andere, die geblieben sind, hoffen auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen - auch dank der vielen Medienberichte über ihre prekäre Lage. Inzwischen erscheinen wieder Anzeigen in den einschlägigen Online-Portalen - es wird händeringend nach Arbeitskräften in Rheda-Wiedenbrück gesucht. Zu besseren Bedingungen, heißt es in den Annoncen.

Sie werden wieder kommen, Frauen und Männer aus Rumänien, die in ihrer Heimat keine gut bezahlte Arbeit finden. Viele, mit denen wir gesprochen haben, wünschen sich, direkt von ihrem deutschen Arbeitgeber übernommen zu werden, sollte das längst fällige Gesetz die Werkverträge in der deutschen Fleischindustrie tatsächlich verbieten. Geht es nach dem Willen des deutschen Arbeitsministers Hubertus Heil (SPD), könnte das bereits am 1. Januar 2021 der Fall sein. Der Bundestag soll nach der Sommerpause über einen entsprechenden Gesetzentwurf entscheiden.

Ob ähnliche Bestimmungen auch in der Landwirtschaft, auf Baustellen und im Kurierdienst zur Geltung kommen, steht noch nicht zur Debatte. Auch aus diesen Bereichen berichten wir seit Jahren über skandalöse Zustände. Es wäre bestimmt ein starkes Signal, wenn sich Deutschland während seiner EU-Ratspräsidentschaft für europaweite Standards bei der Arbeitnehmer-Freizügigkeit einsetzen würde. Zugunsten der Arbeitnehmer.