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Ticketkauf in Zeiten von Corona

Martin Reischke
23. April 2020

Wer in Deutschland vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen will, hat es nicht einfach. Zahlreiche Verkehrsverbünde sorgen für einen Tarifdschungel, den niemand versteht. Ein Schweizer Startup will das ändern.

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Symbolbild Fahrkartenautomat
Bild: picture-alliance/dpa/F. von Erichsen

Mit der Verkehrswende in Deutschland ist das so eine Sache: Zwar kann der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) immer wieder neue Fahrgastrekorde vermelden - doch der Anteil der Wege, die die Deutschen in öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen, liegt seit Jahren stabil bei gerade einmal zehn Prozent. Wie kann das sein? "Die Menschen sind zwar mehr mit Bus und Bahn unterwegs, aber auch die Fahrten mit dem Auto haben zugenommen", erklärt Philipp Kosok, der beim Verkehrsclub Deutschland für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr zuständig ist.

Klimaziele verfehlt

Die selbstgesteckten Klimaziele wird die Bundesrepublik so deutlich verfehlen. Denn vielen Autofahrerinnen und Autofahrer ist der Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel wie Bus und Bahn offenbar vor allem eins: viel zu kompliziert. Wer sich eine Karte der Verkehrs- und Tarifverbünde in Deutschland anschaut, weiß auch warum: Es ist ein riesiger bunter Flickenteppich mit zahllosen Insellösungen. Über die genaue Zahl der Verbünde streiten sich selbst Branchenkenner: Der VDV schätzt sie bundesweit auf etwa 60, Verkehrsexperte Kosok kommt sogar auf etwa 80 Verbünde. Fest steht: Es sind genug, um neue Fahrgäste mit Hunderten von verschiedenen Tarifen und Geltungsbereichen nachhaltig zu verschrecken, die nicht aufeinander abgestimmt sind.

Hoffentlich das richtige Ticket gekauft. Hier ein Entwerter auf einem Berliner U-Bahnhof.
Hoffentlich das richtige Ticket gekauft: Hier ein Entwerter auf einem Berliner U-Bahnhof. Bild: imago images/Schöning

"Technisch ist es im Jahr 2020 problemlos möglich, ein Ticket von Haustür zu Haustür anzubieten, selbst wenn ich dabei in einen anderen Verkehrsverbund fahre", sagt Kosok. Dafür allerdings müssten die Verkehrsunternehmen auch Tickets aus anderen Verbünden anbieten dürfen. "Doch dagegen sperren sich viele Unternehmen - und das macht den Ticketkauf in Deutschland unnötig kompliziert", kritisiert Kosok. Selbst mit der teuren Bahncard 100, die im gesamten Netz der Deutschen Bahn gültig ist, kann man zwar in vielen, aber längst nicht in allen deutschen Städten den öffentlichen Nahverkehr benutzen.

Fahrkartenkauf ganz einfach

Dass der Fahrkartenkauf nicht kompliziert sein muss, zeigt ein Blick in die Schweiz. In einer kleinen Gasse in der Berner Innenstadt hat Fairtiq seinen Sitz. Das Schweizer Startup will den Zugang zum öffentlichen Verkehr radikal vereinfachen. Wer die App installiert und sich registriert hat, muss lediglich zu Beginn der Reise einchecken. Dann erhält er eine gültige Fahrkarte für die ganze Region, dank Standort-Ortung wird die Fahrt erfasst. Nach dem Check-Out am Ende der Reise berechnet die App automatisch die günstigste Ticketvariante.

Schon heute gilt die App im gesamten öffentlichen Nah- und Fernverkehr der Schweiz. Mehr als zwölf Millionen Fahrten wurden mit Fairtiq bereits absolviert - davon profitiert auch der öffentliche Verkehr, weil er sich neue Kundenkreise erschließt. Dabei sind es längst nicht nur junge, Internet-affine Menschen, die sich die App installieren: "Unsere Nutzerinnen und Nutzer in der Schweiz spiegeln den demografischen Schnitt des Landes wider", sagt Paula Ruoff - und der liegt bei deutlich über 40 Jahren.

Ein Wisch nach rechts - fertig ist der Ticketkauf
Ein Wisch nach rechts - fertig ist der TicketkaufBild: Fairtiq

Ruoff ist zuständig für das Deutschland-Geschäft von Fairtiq, denn das Interesse an der App ist auch hierzulande groß - auch wenn der Weg zu einer bundesweiten Lösung noch sehr weit ist. Göttingen und Halle an der Saale haben das Ticket-System 2019 eingeführt, Flensburg, Lörrach und Dresden sollen noch in diesem Jahr folgen. In Köln und Frankfurt laufen Pilotprojekte, München will im Sommer den Testbetrieb aufnehmen. "Viele Verkehrsunternehmen wollen weg vom Ticketverkauf in Bussen und Bahnen", sagt Ruoff. Denn die sorgten für Zeitverluste, außerdem sei das eingenommene Bargeld ein Sicherheitsrisiko für Fahrerinnen und Fahrer.

Einstiegshürden senken

Im Verkehrsverbund Mittelthüringen (VMT) mit einem Einzugsgebiet von mehr als 800.000 Menschen wurde die Einführung der Fairtiq-App Corona-bedingt sogar ein paar Wochen vorverlegt: Da die Fahrertür in den Bussen geschlossen bleiben muss und keine Tickets im Bus verkauft werden dürfen, bietet die App nun eine gute Alternative. "Wir wollen die Einstiegshürden für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs senken", sagt VMT-Geschäftsführer Christoph Heuing. Das funktioniere umso besser, je einfacher der Zugang sei. "Mit Fairtiq braucht man keine Tarifkenntnisse, sondern muss nur den Schieberegler zum Check-In und Check-Out auf dem Handy bewegen", sagt Heuing. "Das kriegt jeder hin."

Sensible Daten

Doch was passiert mit den Daten, die die Nutzerinnen und Nutzer der App mit Fairtiq teilen? Schließlich muss das Unternehmen genaue Bewegungsprofile der Fahrgäste erstellen, um den Fahrpreis anschließend exakt berechnen zu können. "Wir bewahren die Daten so lange wie nötig auf und geben sie nicht an Dritte weiter oder verkaufen sie", verspricht Fairtiq-Mitarbeiterin Paula Ruoff. "Wir wollen die Daten nur für die Verkehrswende nutzen." Denn durch das geodatenbasierte Tracking kann man in Echtzeit nachvollziehen, welche Strecken und Haltepunkte wie stark nachgefragt werden - und so wichtige Entscheidungshilfen für die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs liefern.

Die Corona-Krise könnte Fairtiq noch einmal zusätzlichen Schwung geben - schließlich sind bargeldlose Bezahlsysteme in Zeiten des Social Distancing gefragter denn je. VMT-Geschäftsführer Heuing kann das bestätigen: 2000 Nutzerinnen und Nutzer hätten sich in seinem Verbund bereits registriert - "deutlich mehr als gedacht". Fairtiq-Mitarbeiterin Paula Ruoff ist da zurückhaltender: "Wir werben nicht damit", sagt sie. "Schließlich wollen wir nicht, dass die Kundinnen und Kunden in Corona-Zeiten reisen."