Email aus…Kiew: Sommer am Dnjepr
25. Juli 2008Weißer Sand und glitzerndes Wasser sind nur vier U-Bahnstationen vom Zentrum Kiews entfernt: Welche europäische Großstadt hat schon so etwas zu bieten? Wenn im Sommer die Quecksilbersäule wieder verlässlich über 30 Grad klettert, lässt sich halb Kiew an den sandigen Ufern des Dnepr nieder. Hier liegen zwei Inseln inmitten des mächtigen Stroms. Die eine ist für Spaziergänger und Nacktbader reserviert, auf der anderen hält die U-Bahn an der Haltestelle Hydropark.
Schachspiel und Schaschlik grillen
Die Besucher erwartet eine Sommer-Vergnügungs-Meile mit „Hau den Lukas“, Karaoke und Karussells, Eisbuden und Trockenfisch. Weil die Kiewer den Rummel an ihrem Stadtstrand lieben, kommen sie in Scharen zum Sonnenbaden, Schaschlik grillen, Bier trinken, Federball oder Schach spielen. Am liebsten machen sie alles zusammen und kämpfen dabei tapfer mit den Mückenschwärmen, die sich gierig über die entblößten Beine und Rücken hermachen.
Am Dnepr lässt sich die Gluthitze des Sommers in Kiew am besten aushalten, berichtet Fokus Europa - Korrespondent Clemens Hoffmann. Die Betonung liegt seiner Erfahrung nach dabei auf „Am Dnepr“, denn ob der Fluss zum Baden taugt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Eine eklige braune Brühe schwappe da ans Ufer, sagen die einen. Und wissen von eingeleiteten Abwässern, Schwermetallen und Tschernobyl-Radioaktivität. Sie schwitzen lieber weiter, als sich mit einem mutigen Sprung in die träge dahinfließenden Fluten abzukühlen.
Sündenerlass durch Taufe
Für die anderen ist der Dnepr ein geradezu mythischer Fluss, zum Beispiel für den ukrainischen Präsidenten Victor Juschtschenko. Am orthodoxen Neujahrstag taucht er todesmutig für einige Sekunden bis zum Haarschopf in den eisigen Fluten unter -in Badehose und mit einem goldenem Kreuz um den Hals. Angeblich reinigt das Bad Körper und Seele von allem Schlechten.
Das frostige Ritual erinnert den Fokus Europa - Korrespondenten nicht zu Unrecht an eine Taufe. Im Jahre 988 wurden in Kiew die ersten heidnischen Slawen mit Dnepr-Wasser zu Christen getauft. Fürst Wladimir hatte die Christianisierung befohlen. Dies war ein diplomatischer Schachzug anlässlich seiner Hochzeit mit der Tochter des byzantinischen Kaisers, da er so dessen Unterstützung gegen gemeinsame Feinde gewann. Die orthodoxe Kirche sprach Wladimir später heilig.
Ein waschechter Ukrainer
Heute ist Fürst Wladimir auf dem kleinsten ukrainischen Geldschein abgebildet und thront auf einem Denkmalsockel am Ufer des Dnepr. Am letzten Juli-Wochenende wird in Kiew an den Beginn der Christianisierung vor 1020 Jahren erinnert, indem der Patriarch von Konstantinopel am Fuße des Denkmals einen feierlichen Gottesdienst hält.
Fokus Europa - Korrespondent Clemens Hoffmann hat seine Dnepr-Taufe erst vor ein paar Tagen hinter sich gebracht. Etwas außerhalb der Stadt balancierte über scharfe Steinchen hinweg hinein in den sagenumwobenen Strom. Während er an Wladimir den Heiligen und Victor den Präsidenten dachte, wagte er vorsichtig ein paar Züge im kühlen und erfrischenden Wasser. Die rostbraune Farbe irritierte ihn, während er gegen die Strömung arbeitete. Seine ukrainische Bekannte lobte den Mut des Korrespondenten: Er sei nun ein waschechter Ukrainer. Vor Stolz verschluckte Hoffmann sich an einer kleinen Welle und musste fürchterlich husten.