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PolitikTürkei

Türkei: Tummelplatz der internationalen Mafia

20. November 2022

Organisierte Kartelle vom Balkan, aus dem Kaukasus und aus dem arabischen Raum haben die Türkei als Operationsgebiet entdeckt. Dies liegt nicht nur an der geografischen Lage des Landes als Brückenkopf nach Europa.

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Ein türkisches Polizeiauto (Ausschnitt)
Die türkische Polizei ist bei den Machenschaften internationaler organisierter Verbrecherbanden oft machtlosBild: picture-alliance/dpa/V. Moilanen

Lange wurde er per internationalem Haftbefehl gesucht, am 4. November schließlich wurde der mutmaßliche serbische Drogenboss Zeljko Bojanic in Istanbul festgenommen. Er hatte sich dort mit einem gefälschten Pass aufgehalten. Seine Festnahme rief Aufsehen hervor und unter anderem Kemal Kılıçdaroğlu auf den Plan. "Der ganze Mafia-Abschaum der Welt ist in unsere Städte gekommen", twitterte der türkische Oppositionsführer nur kurz nach Bojanics Festnahme. Und fuhr danach - direkt an die Kartelle gerichtet - fort: "Verlasst unsere Städte. Wir werden euch vernichten. Nehmt eure schmutzigen Gelder mit und geht."

Tatsächlich gibt es seit Jahren immer wieder Hinweise, dass viele Anführer und Mitglieder internationaler krimineller Vereinigungen zunehmend die Türkei als Standort nutzen. Viele Morde, die auf mafiöse Angelegenheiten hindeuten, wurden in den vergangenen Jahren in der Türkei verübt. So wurde am 7. September dieses Jahres der serbische Kriminelle Jovan Vukotic in Istanbul getötet. Er galt als Chef einer der berüchtigtsten Drogenbanden des Balkans. 2018 wurde der georgische Mafiaboss Gayoz Zviadadze in Antalya ermordet.

Verpixeltes Porträt des iranischen Drogenbarons Naji Sharifi Zindashti
Der iranische Drogenbaron Naji Sharifi Zindashti war zwischenzeitlich sogar Kronzeuge in einem Gerichtsprozess. Momentan ist er auf der Flucht.Bild: ANKA

Im selben Jahr wurde der iranische Drogenhändler Naji Sharifi Zindashti wegen Mordes in Istanbul verhaftet. Er wurde mittlerweile freigelassen und ist seitdem auf der Flucht. Der aserbaidschanische Kriminelle Ali Gamidov wurde 2013 in Istanbul in einer luxuriösen Villa getötet. Verdächtigt wurde ein aserbaidschanischer Anführer einer anderen kriminellen Vereinigung, namens Rövshen Caniyev. Auch er wurde 2016 in Istanbul ermordet. Für seine Ermordung wurde sein Landsmann Nadir Salifov verdächtigt, der wiederum 2020 ermordet wurde.

Nach Istanbul kommt jeder… auch die Mafia

Nur: Warum ist gerade die Türkei zu einem derartigen Tummelplatz für kriminelle Vereinigungen geworden? Hanefi Avcı ist ehemaliger Polizeichef der Städte Edirne und Eskisehir. Er weist im Gespräch mit der DW auf die Größe Istanbuls hin: In der Stadt leben offiziell mehr als 16 Millionen Menschen. "Die Mobilität der Menschen ist hoch", sagt Avcı. "Hierhin kommt jede Art von Menschen - auch solche, die zum organisierten Verbrechen gehören", so Avcı. In den vergangenen Jahren habe die Anwesenheit ausländischer Mafiakartelle, "vor allem aus dem postsowjetischen Raum, dem Balkan oder dem arabischen Raum", zugenommen. 

"Die aktivsten kriminellen Vereinigungen in der Türkei sind diejenigen aus dem Balkan und dem Kaukasus", bestätigt der Journalist Timur Soykan im Gespräch mit der DW. Soykan schreibt für die gewerkschaftsnahe Tageszeitung "BirGün". Ihm zufolge ist die Türkei zum Hinterhof der Balkan-Mafia geworden. Die geografische Lage des Landes spiele dabei eine zentrale Rolle, da sich hier verschiedene Drogenhandelsrouten überschneiden. Auch der britische Historiker Mark Galeotti schrieb bereits vor zehn Jahren, dass die Lage der Türkei das Land für organisiertes Verbrechen "zu einer idealen Brücke zur und aus der Europäischen Union macht".

Die schwache Demokratie ermutigt die Mafia

Porträt von Cevat Önes, ehemaliger stellvertretender Leiter des Türkischen Geheimdienstes (MIT)
Cevat Öneş ist ehemaliger Vizechef des türkischen Geheimdienstes MITBild: Necati Savas

Nicht nur die geografischen, sondern auch die politischen Gegebenheiten spielen eine Rolle. "In welch einem Umfeld bewegen sich kriminelle Vereinigungen gerne?", fragt Cevat Öneş, ehemaliger Vizechef des türkischen Geheimdienstes MIT, im Gespräch mit der DW - und gibt die Antwort gleich selbst: "Dort, wo es keinen Rechtsstaat, kein funktionierendes Rechtssystem gibt. Wo sie stattdessen selbst Verbindungen zu den staatlichen Institutionen knüpfen können."

Öneş weist unter anderem auf die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und die geschwächte Demokratie in der Türkei hin. "In der Türkei haben sich einige ungünstige Umstände entwickelt. Wir stehen Strukturen gegenüber, die man nicht einfach so regulieren oder vor Gericht bringen kann", sagt Öneş. "Wenn sich in der Türkei der Unrechtsstaat und die Straflosigkeit vertiefen, dann sehen mafiöse Gruppierungen das Land zunehmend als Raum für ihre Aktivitäten. Diese kriminellen Vereinigungen sehen die Türkei nicht nur als Brücke, sondern als Standort."

Auch Soykan betont, dass den ausländischen kriminellen Vereinigungen bewusst sei, dass in der Türkei Straflosigkeit herrsche. "Sie sehen, dass gegen mafiöse Strukturen gerichtlich so gut wie überhaupt nicht vorgegangen wird", so Soykan.

Öneş verweist auf Spekulationen darüber, dass die Mafia und der türkische Staat geheime Beziehungen zueinander pflegen. Das erleichtere die Aktivitäten der Mafia in der Türkei. Dieses Netzwerk zwischen Staat und organisiertem Verbrechen hat in jüngster Zeit der Mafiaboss Sedat Peker sehr medienwirksam über die sozialen Medien enthüllt. Als ehemaliger Verbündeter der AKP-Regierung, veröffentlichte er bis vor kurzem Videos und Tweets, in den er hochrangige Regierungsmitglieder belastete. 

Still aus einem YouTube-Video: Mafiaboss Sedat Peker sitzt in einem Konferenzraum an einem Tisch
Sedat Pekers Enthüllungen haben die türkische Öffentlichkeit auf die kriminellen Netzwerke der türkischen Mafia aufmerksam gemachtBild: REİS SEDAT PEKER/Youtube

"Geheimdienst muss agieren"

Beobachter bemängeln daher auch eine fehlende Überwachung ausländischer krimineller Vereinigungen durch den Regierungsapparat. "Eigentlich müsste der Staat diese Menschen mit großer Sorgfalt überwachen und präventive Maßnahmen ergreifen", so Avcı. Er sieht dabei auch den Geheimdienst in der Pflicht, der aber aufgrund anderer aktueller politischer Entwicklungen diese Aufgabe vernachlässige. Die internationale Mafia werde auch aufgrund ihrer zahlreichen Verflechtungen mit dem Staat nicht als größte Bedrohung angesehen, weshalb auch weniger Mittel für deren Bekämpfung zugewiesen würden: "Der Geheimdienst arbeitet in Übereinstimmung mit der Regierung", sagt Avci. Doch daher konzentriere er sich - nicht erst seit dem jüngsten Bombenanschlag auf einer beliebten Istanbuler Einkaufsstraße - lieber auf die vom Terrorismus bedrohte Sicherheit des Landes.

Mitarbeit: Alican Uludag

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.