1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Selbstmordwelle in Indien

18. Februar 2010

Immer mehr Studenten im indischen Bundesstaat Maharashtra begehen Selbstmord - Grund ist oft der Leistungsdruck in der Schule oder an der Uni.

https://p.dw.com/p/M4Xr
Selbstmord als letzter Ausweg: Jugendliche in Indien leiden unter LeistungsdruckBild: picture-alliance/dpa/DW

"Liebe Mama, ich bin in der Prüfung durchgefallen. Ich weiß, die Welt erlaubt mir nicht, zu leben."

Mit dieser Erklärung beendete die 20-jährige Vidya ihr Leben in der westindischen Stadt Kolhapur, knapp 400 Kilometer von Mumbai entfernt. Vidya ist eine von vielen Jugendlichen im Bundesstaat Maharashtra, die den hohen Leistungsdruck in der Schule oder im Studium nicht mehr aushalten konnten.

Suizide in Indien sind keine Seltenheit. Das Land hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Nach offiziellen Zahlen nehmen sich jedes Jahr 120.000 Menschen das Leben, 40 Prozent davon sind junge Menschen unter 30 Jahren. Unlängst hat sich ein Elfjähiger selbst getötet. Der häufigste Grund für den Freitod von Jugendlichen ist Prüfungsangst. Doch andere Ursachen werden auch genannt: Mobbing in der Schule, unerwiderte Liebe oder der Tod eines Familienmitglieds.

Studenten Indien Videospiel
Videospiele ersetzen die soziale Interaktion und verschleiern den Blick auf die RealitätBild: AP

Veränderte Gesellschaft

Psychologen wissen, dass bei einem Selbstmord meist mehrere Ursachen zusammenkommen, darunter auch soziologische und kulturelle. So haben sich in Indien die Unterhaltungsformen für Kinder geändert. Immer häufiger sitzen Kinder vor dem Computer, surfen im Internet oder beschäftigen sich mit Videospielen - anstatt mit realen Spielkameraden. Dabei verpassen sie wichtige Lehren über gesellschaftliches Verhalten und zwischenmenschliche Beziehungen, sagt Shubhada Maitra, Dozentin bei dem Tata Institute for Social Sciences in Mumbai.

Und auch zu Hause fehlt oft die emotionale Unterstützung. Immer mehr Inder wohnen in Städten, wo die traditionelle indische Großfamile häufiger durch eine Kleinfamilie ersetzt wird. Weil die Lebenskosten so hoch sind, müssen außerdem häufig beide Eltern arbeiten. Stress im Alltag der Eltern überträgt sich auf die Kinder, sagt Psychologin Sandy Andrade.

Indien Studenten Fernsehen
In vielen Familien ist der Fernseher wichtiger als GesprächeBild: AP

Strenges Bildungssystem

Das straffe indische Bildungssystem erhöht den Stress der Kinder zusätzlich. Die Konkurrenz in dem bevölkerungsreichen Land ist sehr groß, nur mit guten Noten steigt die Chance auf einen Platz an den bevorzugten Hochschulen und Universitäten - und damit die Aussicht auf einen guten Job.

Dazu kommt der Erwartungsdruck der Eltern. Diesen Druck können viele nicht aushalten, sagt die 16-jährige Schülerin Sanya Baheti. Eltern drängen ihre Kinder häufig in bestimmte Karrierezweige. Sie sollen Ingenieure oder Ärzte werden, weil diese Berufe in der Gesellschaft gut angesehen sind. "Das führt oft zu Depression, weil die Jugendlichen vielleicht was anderes werden wollen, wie zum Beispiel Basketballspieler oder Sänger. Aber die Eltern sind dagegen, weil man da weniger Geld verdient. Daher fangen sie an, während der Prüfungszeit die Kinder zu stressen und zu nörgeln", klagt Baheti.

Indien Studenten Universität
Stress statt Idylle: Der Konkurrenzdruck an den Universitäten treibt Studenten in die VerzweiflungBild: picture alliance / dpa

Erste Gegenmaßnahmen

Das Bildungsministerium in Maharashtra nimmt die Selbstmordzahlen sehr ernst. Im Januar trafen sich Experten und Schulleiter aus dem ganzen Bundesstaat, um mögliche Lösungen zu besprechen. Das Ministerium hat Anweisungen an alle staatlichen Schulen verschickt.

"Im Falle eines Selbstmordes sollen nun Beamte der Bildungsabteilung in dem betroffenen Gebiet innerhalb von 24 Stunden einen Bericht vorbereiten. Sie sollen die Familie und Freunde der Betroffenen befragen, um die möglichen Ursachen herauszufinden. Danach sollen sie Lösungen empfehlen, um weiteren Suiziden vorzubeugen," erklärt M.R. Kadam, Direktor der Schulabteilung in Maharashtra.

Auch die Lehrer an den Schulen sollen wachsamer werden und behutsamer mit den Kindern umgehen. So könnten sie die ersten Anzeichen für eine Depression erkennen und dem Kind eventuell rechtzeitig helfen. Die Schule würde in dem Fall psychologische Berater beauftragen, die auf dieses Gebiet spezialisiert sind, so Kadam.

Aber diese Maßnahmen reichen nicht aus, sagen Experte. Sie fordern psychologische Beratung als Teil des Schulalltags - und zwar nicht nur für "Problemkinder", sondern für alle Schüler. Kinder sollen öfter und offener reden, ohne Angst zu haben, dass sie ausgelacht werden. Dafür allerdings müssten nicht nur die Beamten und die Lehrer, sondern auch die Eltern sensibilisiert werden.

Autorin: Pia Chandavarkar
Redaktion: Nicola Reyk