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20 Jahre Stolpersteine

Anne Thomas / ust13. Mai 2016

Der Künstler Gunter Demnig hat in Europa fast 60.000 Stolpersteine verlegt. Die ersten vor 20 Jahren in Berlin. Illegal. Sie erinnern an die Opfer der Nationalsozialisten. Es ist das weltweit größte dezentrale Denkmal.

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Zwei goldfarbene Stolpersteine im Boden (Foto: DW)
Bild: DW/A. Thomas

Es ist ein sonniger Tag in Berlin-Mitte, im alten Scheunenviertel. Früher war ein beträchtlicher Anteil der Bewohner hier jüdischen Glaubens, viele kamen aus Ost- und Zentraleuropa. Eine bunt gemischte Gruppe hat sich versammelt: Männer und Frauen, ältere und jüngere, aus Deutschland, Israel, den Niederlanden und anderen Staaten. Auch eine Gruppe Studenten aus Kanada ist dabei, die auf einer Holocaust-Studienreise sind. Die Stimmung ist gedrückt., der Anlass eher düster.

Gunter Demnig kommt an. Er trägt sein Markenzeichen, einen grauen Hut mit breiter Krempe. Demnig ist beladen mit Eimern voll Zement, seinen Werkzeugen und zwei nagelneuen, blanken Stolpersteinen. Die Gedenksteine tragen die Namen von Erzsebet und Jakob Honig. Nach einer kurzen Einführung kniet er sich hin und beginnt, ein Loch zu graben.

Hinter den Zuschauern spielen Kinder auf einer weiten, begrünten Freifläche. Dort standen früher Häuser, in denen dutzende Familien lebten, von denen viele vertrieben - und später vielleicht in Auschwitz ermordet wurden. Der Künstler braucht nur zehn Minuten. Sobald die Stolpersteine fest im Bürgersteig sitzen, poliert er sie, nimmt seinen Hut ab und geht zurück zu seinem Lieferwagen

Am Anfang illegal

Bei der abendlichen Feier zum Gedenken an 20 Jahre Stolpersteine erzählt Demnig, dass er an diesem Tag bei 17 Berliner Adressen Steine verlegt habe. Das ist nicht untypisch für ihn. Im vergangenen Jahr, so rechnet er vor, war er 258 Tage in ganz Europa unterwegs, pro Tag in bis zu drei Dörfern oder Städten.

Gunter Demnig beugt (Foto: DW)
Zum Abschluss reinigt Gunter Demnig die StolpersteineBild: DW/A. Thomas

Dieses Ausmaß war 1996 noch unvorstellbar, als er in Berlin-Kreuzberg die ersten Stolpersteine für 50 jüdische Bewohner verlegte. Damals im Rahmen eines Kunstprojekts, das Auschwitz behandelte. Die Aktion war illegal. Es war keine Presse da, keine Polizei, keine Verwandten. Nur ein paar neugierige Schaulustige sahen zu.

Dezentrales Denkmal in ganz Europa

Heute gibt es allein in der deutschen Hauptstadt 7000 Steine, fast 60.000 in ganz Europa. Von Trondheim in Norwegen bis nach Thessaloniki in Griechenland, von Orel in Russland bis L'Aiguillon-sur-Mer in Frankreich.

In 20 Jahren ist das Stolperstein-Projekt das größte dezentrale Denkmal der Welt geworden. Es ist ein Graswurzel-Projekt, eine "soziale Plastik", an der Verwandte von Holocaust-Opfern, Freiwillige, Studenten und Schulkinder auf der ganzen Welt beteiligt sind. Letztere recherchieren zum Beispiel Biografien von Menschen.

Es sind so viele Steine, dass Gunter Demnig nicht mehr die Zeit hat, sie herzustellen und auch zu verlegen. Seit 2005 fertigt deshalb Bildhauer Michael Friedrichs-Friedländer jeden Stolperstein per Hand in seinem Atelier außerhalb von Berlin. Jeder Stein berühre ihn sehr, erzählt er der Deutschen Welle. Besonders bewegt aber haben ihn die Stolpersteine, die er einmal für 30 Waisen und ihre vier Betreuer hergestellt hat, die vor einem Waisenhaus in Hamburg platziert werden sollten. "Sie waren zwischen drei und fünf Jahren alt. Ich konnte wochenlang nicht schlafen."

Steine für alle Opfer des Nationalsozialismus

Entgegen der allgemeinen Annahme erinnern Stolpersteine an alle Opfer des Nationalsozialismus, an die, die in Auschwitz und anderen Lagern ermordet wurden, aber auch an die, die die Lager überlebten oder die entkamen, weil sie nach Palästina, in die USA oder andere Länder geflohen waren. Die meisten Steine wurden für jüdische Opfer verlegt, aber es gibt auch welche für Sinti und Roma, für Homosexuelle, Dissidenten, für Menschen, die als asozial bezeichnet wurden und Menschen, die durch Euthanasie-Programme starben.

In diesem Jahr wurden auf dem Berliner Alexanderplatz fünf Stolpersteine für fünf Obdachlose verlegt, die in den 1930er Jahren verhaftet und in Umerziehungslager gesteckt wurden.

Stolpersteine zeigen die Vielfalt der Einwohner Deutschlands vor 1933. Sie zollen den Verschwundenen Respekt, indem sie mit ihren Namen an den Orten, wo sie gelebt haben, an sie erinnern.

Aber es geht auch um die Gegenwart. Wenn man sich herunterbeugt und die Inschrift auf dem Stolperstein liest, fängt man schnell an nachzudenken: Die Person war so alt wie ich, als sie ermordet wurde oder wurde im gleichen Jahr geboren wie meine Großmutter. Man fragt sich, wie man sich selbst verhalten hätte, wenn die Familie von gegenüber mitten in der Nacht verschwunden wäre. Und was würde man heute tun, wenn die Nachbarn verschwänden? Stolpersteine machen schwer zu fassende Zahlen vorstellbar und harte Fakten persönlich.

Ein "unglaublich bewegender Moment"

Nachdem Gunter Demnig die Gruppe in Berlin verlassen hat, tritt eine ältere Dame nach vorne und legt ein Gesteck roter Rosen auf die zwei Stolpersteine. Dann erzählt sie von Erzsebet und Jakob Honig, für die die Steine verlegt wurden. Erzsebet war ihre Tante, aber sie haben sich nie kennengelernt. Das Wenige was sie weiß, hat sie von ihrer Mutter erfahren.

Ein Rosenstrauß liegt auf den Stolpersteinen (Foto: DW)
Erzsebet Honigs Nichte hat Blumen für die unbekannte Tante niedergelegtBild: DW/A. Thomas

1896 in Budapest geboren ließ sich Erzsebet ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter von ihrem Ehemann scheiden. Sie ließ ihr Kind bei ihren Eltern und ging nach Berlin, um Arbeit zu finden. Sie wurde Friseurin und traf Jakob. "Sie liebten sich." Sie heirateten und sobald sie sich eingerichtet hatten, konnte Erzsebets Tochter aus Budapest nachkommen. Sie war 16 Jahre alt, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Zu ihrer Sicherheit schickte man sie nach Palästina.

Einer ihrer Söhne ist für die Verlegung der Steine aus Israel angereist. Zu sehen, wie die Stolpersteine in die Erde hinabgelassen wurden, sagt er, sei ein unglaublich bewegender Moment gewesen. Was mit Erzsebet und Jakob geschah, bleibt ungeklärt. Als Inschrift auf ihren Steinen steht "Schicksal unbekannt".