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Igor Levit beklagt Verrohung der Sprache

2. Juni 2020

Der gesellschaftspolitisch aktive Musiker nutzt die Präsentation des aktuellen Grundrechte-Reports für einen emotionalen Appell. Seine Kritik hat viel mit Corona zu tun, aber nicht nur.

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Pianist Igor Levit Hauskonzerte in Corona-Krise
Bild: Igor Levit

Nein, ein Fachmann für Grund- und Bürgerrechte ist Igor Levit nicht. Daraus macht er auch keinen Hehl, als er am Dienstag in Berlin den seit 1997 jährlich verfassten Grundrechte-Report vorstellt. Für den Inhalt verantwortlich sind Organisationen wie Pro Asyl, die Internationale Liga für Menschrechte oder die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Sie alle sorgen sich um Entwicklungen, die sie als Gefahr für die Demokratie betrachten. Die Perspektive ist dabei nicht nur theoretisch und wissenschaftlich, sondern ganz praktisch – gewissermaßen aus dem Leben gegriffen. 

Deshalb kommen neben Juristen und anderen Experten auch Betroffene und Engagierte zu Wort: zum Beispiel eine Charité-Krankenschwester mit ihrer Kritik an der Gesundheitspolitik oder eben der berühmte Pianist Igor Levit, der seit dem Beginn der Corona-Krise live Konzerte aus seiner Berliner Wohnung im Internet streamt. Der sich aber auch schon länger in gesellschaftliche Debatten einmischt. Vor allem, wenn es um Rechtsextremismus und Antisemitismus geht.      

Seenotrettung Mittelmeer
Im Grundrechte-Report wird auch die deutsche Politik im Rahmen der Seenotrettung kritisiert (Archivbild)Bild: AFP/P. Barrena

Und nun der Grundrechte-Report 2020,  bei dem es um so unterschiedliche Themen wie Wohnungsnot, Pflegenotstand, Seenotrettung oder Drohnenkrieg geht. Levit ist für nichts davon Spezialist im engeren Sinne des Wortes, aber er sagt: "Was ich habe, ist ein Gefühl für eine grundsätzliche Situation und eine Art Dringlichkeit für dieses Grundrechte-Thema." Dass die Grundrechte seit dem Beginn der Corona-Krise eingeschränkt wurden, kann er nachvollziehen. Denn die Maßnahmen seien wegen der Epidemie erfolgt – "wie ich finde, zumeist transparent begründet".

Verschwörungsideologen sind für Levit nur ein Symptom

Aber Levit ist zugleich empört über jene, die daraus aus ganz anderen Motiven politisches Kapital schlagen wollen. Die Corona-Pandemie werde von jenen benutzt, "die Grundrechte und die Zukunft der Demokratie jeden Tag mit Füßen treten". Namen einzelner Akteure oder Parteien nennt der Pianist zwar keine, aber alle wissen auch so, wer gemeint ist: Corona-Verharmloser auf den Straßen, im Netz und in den Parlamenten. Ihnen will er die Stirn bieten: "Wir müssen uns fragen: Wem überlassen wir das Feld, nach Grundrechten zu fragen?"

Deutschland München | Etwa 3000 Menschen protestieren gegen Corona-Auflagen mit teils Verschwörungstheoretischem Hintergrund
Corona-Verharmlosern wie hier im Mai 2020 in München will Igor Levit nicht tatenlos zusehenBild: picture-alliance/ZUMAPRESS/S. Babbar

Verschwörungsideologen sind für den 33-Jährigen allerdings nur ein Symptom für aus seiner Sicht gefährliche gesellschaftliche Entwicklungen insgesamt. Angesichts der Wohnungsnot in Großstädten wie Berlin etwa befürchtet Levit, dass räumliche Ausgrenzung zu einer Situation führen könnte, "die irgendwann mal zur Explosion führen kann". Man nehme Menschen Räume, Luft, Freiheit "und dann geht irgendwann mal eine Bombe hoch". Levit meint das bildlich, als Metapher für gesellschaftliche Spannungen, die sich gewaltsam entladen könnten.    

Für eine große Gefahr hält der in Russland geborene und als Kind nach Deutschland gekommene Musiker einen allgemein zu beobachtenden Verfall der Umgangsformen. Eine Entwicklung, die Levit schon während der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise wahrgenommen hat. Jahrelang standen einige Länder der Europäischen Union (EU) vor dem Staatsbankrott. Damals hätten viele vor einer Verrohung der Sprache gewarnt. 

Deutschlannd Symbolbild Hass in der Gesellschaft
Igor Levit teilt die Gefühle der Anti-AfD-Demonstranten (hier 2018 in Rostock im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern) Bild: picture-alliance/dpa/C. Charisius

Niemand habe eine Debatte nach dem Motto "Die faulen Griechen" gebraucht. Auslöser waren seinerzeit unter anderem Berichte in der Boulevard-Zeitung "Bild". Damit seien Ressentiments gesät worden – "Jahre bevor Nazis und Faschisten in deutschen Parlamenten saßen". Eine Anspielung auf die erst 2013 gegründete "Alternative für Deutschland" (AfD), die inzwischen teilweise vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Als Horst Seehofer Migration zur "Mutter aller Probleme" erklärte

Mediale Entgrenzung sei mit politischer Entgrenzung "Hand in Hand" gegangen, sagt Levit. Und er nennt ein anderes Beispiel aus der Zeit seit 2015, in der hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland Schutz vor Krieg und Terror suchen. Es habe keine Notwendigkeit gegeben, "Migration zur Mutter aller Probleme zu erklären", erinnert er an eine hoch umstrittene Formulierung des deutschen Innenministers Horst Seehofer. Politische Debatten könnten anders geführt werden, meint Levit. "Aber diese Tür war nun auf."

Deutschland Horst Seehofer in Erding
Der deutsche Innenminister Horst Seehofer bezeichnete Migration mal als "Mutter aller Probleme" (Archivbild)Bild: picture-alliance/Sven Simon

Die gesellschaftskritischen Töne des erfolgreichen Pianisten decken sich im Kern mit einem wichtigen Anliegen des Grundrechte-Reports: auf die Einhaltung von Gesetzen zu pochen. Deren Basis ist die Verfassung, also das Grundgesetz. Und da klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aus Sicht der Kritiker oft eine mehr oder weniger große Lücke. Konkretes Beispiel aus dem aktuellen Bericht ist die Berliner Initiative "Deutsche Wohnen & Co enteignen!" Hintergrund sind Wohnungsnot und seit Jahren extrem steigende Mieten.

Eine Klage gegen den BND war erfolgreich

Theoretisch könnten große private Wohnungsunternehmen verstaatlicht werden. Im Grundgesetz-Artikel 15 sind Enteignungen ausdrücklich vorgesehen. Allerdings warten die Initiatoren der Berliner Kampagne seit Juni 2019 darauf, dass die Landesregierung ihr Volksbegehren abschließend rechtlich prüft. Die Initiatoren werfen politisch Verantwortlichen vor, ihr Engagement absichtlich zu blockieren. Deshalb hat die von ihr mitgegründete Initiative am 18. Mai Klage beim Amtsgericht eingereicht.

Dass Klagen gegen staatliches Handeln erfolgreich sein können, dafür gibt es immer wieder Beispiele. So wurde Mitte Mai das Gesetz für den Bundesnachrichtendienst (BND)für verfassungswidrig erklärt. Geklagt hatten ausländische Journalisten, die von Menschenrechtsorganisationen unterstützt wurden. Eine von ihnen, die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), gehört seit diesem Jahr zu den Herausgebern des Grundrechte-Reports.    

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland