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Späte Justiz: KZ-Helfer vor Gericht

Volker Wagener11. Februar 2016

Sie sind über 90 und werden mehr als 70 Jahre nach Kriegsende mit ihrer Nazi-Vergangenheit konfrontiert. Eine empörende Rechtsauffassung wird spät korrigiert. Die wirklich allerletzten NS-Prozesse stehen bevor.

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Der Angeklagte Reinhold H. (rechts) wird in den Gerichtssaal geführt (Foto: dpa)
Der Angeklagte Reinhold H. (rechts) wird in den Gerichtssaal geführtBild: picture-alliance/dpa/F. Gentsch

Reinhold H. ist 94 Jahre alt. Als er als Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz Dienst hatte, war er Anfang 20. Ein Gehilfe im Tötungsapparat der Nazis. Er soll, so die Staatsanwaltschaft, für die Tötung von mindestens 170.000 Menschen mitverantwortlich sein. Männer wie ihn ließ die deutsche Justiz jahrzehntelang ungeschoren davonkommen. Jetzt, mehr als 71 Jahre nach seiner Zeit als SS-Mann im sogenannten "Totenkopf-Sturmbann", wird ihm der Prozess gemacht.

Das Verfahren vor dem Landgericht Detmold ist kein Einzelfall. Dennoch: Von rund 6500 SS-Wachmännern in Auschwitz wurden bislang nur 49 verurteilt. Längst gilt das Versagen der Justiz als "zweite Schuld" der Deutschen. Zum Vergleich: Die polnische Justiz verurteilte knapp 700 SS-Angehörige aus Auschwitz.

Auschwitz, Synonym für den Holocaust

Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Lager Auschwitz nahe Krakau im heutigen Polen erreichte, zählte sie noch rund 7000 Gefangene in dem Konzentrationslager. Von den zuletzt 60.000 Insassen waren die meisten kurz zuvor von der SS erschossen oder aber auf sogenannte Todesmärsche Richtung Westen getrieben worden.

1,1 bis 1,5 Millionen Menschen wurden in Auschwitz zwischen 1940 und 1945 umgebracht: Männer, Frauen und Kinder wurden vergast, totgespritzt, erschossen, erschlagen. Alles wurde bürokratisch dokumentiert, zum Beispiel als "Sonderbehandlung".

Nach dem Krieg waren diese Verbrechen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit fast 20 Jahre lang ein Tabu, vor allem für die Justiz. Das Motto lautete: "Das Vergangene soll ruhen!" Der Geist der Adenauer-Ära - also der Regierungszeit des ersten Bundeskanzlers von 1949 bis 1963 - war geprägt von weitverbreiteter Amnesie oder aktivem Entnazifizierungs-Eifer.

Staatsanwälte und Richter mit einer braunen Vergangenheit blieben bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik auffällig untätig. Nichtstun genügte. Allein in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sollen rund 80 Prozent der Justiz vorbelastet gewesen sein.

Fritz Bauer gehörte nicht dazu. Der hessische Generalstaatsanwalt ist der Vater des Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Der Jude, KZ-Überlebende und Sozialdemokrat wurde zum entschlossenen Verfolger von Kriegsverbrechern. Der unbelastete Jurist galt lange als Nestbeschmutzer. Schon 1959 übertrug der Bundesgerichtshof Bauer die Zuständigkeit für den Auschwitz-Prozess.

Blick auf die Anklagebank im Auschwitzprozess 1963 (Foto: imago)
Frankfurt am Main, 20. Dezember 1963: Auftakt der Auschwitz-ProzesseBild: imago/United Archives

Sisyphusarbeit in Ludwigsburg

Der Prozess konnte 1963 auch deshalb beginnen, weil 1958 die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet worden war. Bis dahin waren Kriegsverbrecher nur unsystematisch und unkoordiniert verfolgt worden. Aber selbst die zentrale Recherche der Behörde stieß schnell an selbst auferlegte Grenzen.

Verfolgt wurden nur die Fälle, denen eine einzelne konkrete Tat nachgewiesen werden konnte. Diese Praxis galt viele Jahre und führte im Ergebnis dazu, dass nur selten Anklagen erhoben wurden. Der Bundesgerichtshof hatte schon 1969 entschieden, dass nicht jeder, der in die Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager eingebunden war, auch verantwortlich für die Gräueltaten sei.

Das änderte sich 2011, als John Demjanjuk vor dem Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord angeklagt war. Der Ukrainer war in deutscher Kriegsgefangenschaft der Waffen-SS beigetreten und wurde Aufseher im Vernichtungslager Sobibor.

Allein den Dienst in diesem Lager wertete das Gericht als Beihilfe zum Mord, eine konkrete Tötung eines Gefangenen durch Demjanjuk musste nicht nachgewiesen werden. Das Gericht verurteilte den Angeklagten zu fünf Jahren Haft. Demjanjuk starb ein Jahr später - noch bevor das Revisionsurteil gesprochen werden konnte - mit 91 Jahren. Das Urteil war eine Zäsur. Seitdem wird verstärkt gegen Lager-Aufseher ermittelt. Ein Wettlauf gegen die Zeit.

Letzte Fälle

Immer häufiger kommt die Justiz zu spät. Wie zum Beispiel beim ehemaligen Wachmann von Belzec, Samuel Kunz. Die Anklage hatte ihm Mord in zehn und Beihilfe zum Mord in 430.000 Fällen vorgeworfen. Er starb 2010 noch vor Prozessbeginn. Im gleichen Jahr verhängte das Landgericht Aachen eine lebenslange Haftstrafe gegen Heinrich Boere. Er hatte 1944 als Mitglied eines SS-Mordkommandos niederländische Zivilisten erschossen. Boere starb 2013 hinter Gittern.

Oskar Gröning (Foto: Reuters)
Oskar Gröning im Juli 2015 vor dem Landgericht Lüneburg.Bild: Reuters/F. Bimmer

Aufsehen erregte das Verfahren gegen Oskar Gröning, das im Juli 2015 mit einer vierjährigen Haftstrafe wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen endete. Der als "Buchhalter von Auschwitz" bezeichnete 94-Jährige bekannte sich als moralisch mitschuldig an den Morden in Auschwitz. Das Gericht attestierte: Menschen wie Gröning hätten gründlich, effektiv und gnadenlos zum Funktionieren der Tötungsmaschinerie beigetragen.

Rechtskräftig ist das Urteil noch nicht, denn der Bundesgerichtshof muss in diesem Frühjahr noch über eine Revision befinden. Kommt das Gericht zu der Auffassung, dass schon die Tätigkeit in einem Vernichtungslager ausreicht, um einen Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen, werden weitere Verfahren gegen Nazi-Greise folgen. Es werden dann wirklich die allerletzten sein.