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Skandal oder Sturm im Wasserglas?

Stephan Köhnlein, ap2. Juni 2002

Antisemitismus sei der populärste Vorwurf, den man derzeit einem Buch machen könne, sagte Suhrkamp-Verlagsleiter Günter Berg zur aktuellen Debatte. Der "Tod eines Kritikers" gibt jedoch für einen Skandal wenig Anlass.

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Bild: AP

Das Thema Juden wird auf den insgesamt 153 Manuskriptseiten nur zwei Mal direkt angesprochen. Zunächst droht der Schriftsteller Hans Lach auf einer Party dem Literaturkritiker André Ehrl-König, der einen Lach-Roman öffentlich demontiert hatte, mit dem abgewandelten Hitler-Zitat: "Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen". Walser lässt den Ausspruch jedoch nicht unkommentiert: "Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen ... mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, daß André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocausts."

Im letzten Drittel des Buches - nachdem der Literaturkritiker angeblich ermordet wurde - wird das Motiv noch einmal aufgenommen: "Das Thema war jetzt, daß Hans Lach einen Juden getötet hatte", heißt es da. Auf gut einer Manuskriptseite beschreibt Walser verschiedene Positionen einer Feuilleton-Debatte, ob "in Deutschland die Ermordung eines Juden ein Faktum ganz anderer Art sei als in jedem anderen Land der Welt".

Was ist das Thema: Holocaust oder Kulturbetrieb?

Auch das Argument der Kritiker, es handele sich insgesamt um eine antisemitische Atmosphäre, bei der die gängigsten Klischees in Nebensätzen untergebracht würden, erscheint beim Lesen des Textes nicht zwingend. Die Tatsache, dass der Literaturkritiker im Buch einen geistigen Lenker hat, der ihm seine Auftritte und die Bonmots vorgibt, ist für Spiegel-Rezensentin Elke Schmitter das Stereotyp des Juden, "der selbst nicht schöpferisch ist". Walser selbst wird nicht müde zu betonen, dass es in dem Buch nicht um einen Juden oder den Holocaust gehe, sondern um "die Erfahrungen eines Autors mit Machtausübung im Kulturbetrieb zur Zeit des Fernsehens".

Nach den Erfahrungen mit seiner Paulskirchen-Rede hätte Walser jedoch bei diesem sensiblen Thema gewarnt sein müssen. In der Rede im Jahr 1998 hatte er Auschwitz als "Moralkeule" bezeichnet und damit besonders beim Zentralrat der Juden Entrüstung ausgelöst. Trotzdem wollte Walser in seinem neuen Roman nicht auf die problematisierbare jüdische Herkunft seines Darstellers verzichten: "Dann wird Schreiben zum Correctness-Slalom", sagte er dem Spiegel.

Ehrl-König und Reich-Ranicki

Zunächst hatte Walser das Buch als Kriminalroman angekündigt, doch ohne Leiche, Verbrechen und eher dürftigen Ermittlungen kann das Werk diese Erwartungen nicht erfüllen. Inzwischen spricht er von einer Komödie. Grobe Satire wäre wohl treffender. Überdeutlich sind die Anspielungen auf Reich-Ranicki. Egal ob Aussehen, Sprache, Argumentationsschemata oder die Selbstinszenierung - Walser hat dem bekanntesten deutschen Literaturkritiker mit Ehrl-König ein treffendes Ebenbild geschaffen.

Literatur = Abstraktion von der Realität

Doch Literatur mit Realität abzugleichen, habe nichts mit literarischer Kritik zu tun, sondern mit Boshaftigkeit, erklärt Suhrkamp-Mann Berg. Dass man Romanfiguren und reale Personen trotz verblüffender Ähnlichkeiten nicht gleichsetzen darf, gehört zu dem Wissen, dass Studierenden der Literaturwissenschaften bereits im ersten Semester vermittelt wird. Offen bleibt aber die Frage, wieweit literarische Satire gehen darf. Walser schreibt aus einer parteiischen Perspektive. Die Öffentlichkeit erlebt meist nur die inszenierten Auftritte der Kritiker.

Diskutieren, ohne zu lesen?

Walsers Werk schildert die Seite der Autoren, die ein über die Massenmedien verbreiteter Verriss oft in eine Krise stürzen kann. Insoweit wirft das Werk auch die Frage auf, wie weit Literaturkritik eigentlich gehen darf. In die Diskussion über das Buch haben sich inzwischen viele eingeschaltet, obwohl sie das Buch nicht gelesen haben. Suhrkamp erwägt auch deswegen, die Veröffentlichung vorzuziehen. Das könnte den Ton der Diskussion versachlichen. Um den Absatz muss sich der Verlag nach dem Wirbel um das Werk jedenfalls keine Sorgen mehr machen.