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Politik

Ein tragischer Held

Frank Sieren
12. Februar 2020

Die Coronakrise und vor allem der Tod des Arztes Li Wenliang hat in Chinas Medien eine Diskussion um mehr Meinungsvielfalt und weniger Zensur entfacht. Das könnte zu Chinas Vorteil sein, meint Frank Sieren.

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Trauer Dr. Li Wenliang Hongkong Coronavirus
Trauer um den am Coronavirus verstorbenen Dr. Li Wenliang in HongkongBild: picture-alliance/dpa/AP/Kin Cheung

China hat nun einen neuen Märtyrer: Den vergangene Woche in Wuhan verstorbenen Dr. Li Wenliang. Der 34-jährige Augenarzt war einer der ersten, der Ende Dezember die Virusgefahr erkannte und in einer Chatgruppe Kollegen davor warnte. Nachdem sein Post sich weiter verbreitete, wurde er von den Lokalbehörden zum Verhör geladen und musste unterschreiben, dass er nun schweigen werde. Das Verbreiten von "falschen Äußerungen störe die öffentliche Ordnung", so die Begründung.

Seit Lis Tod am Freitag brodelt es in den chinesischen Sozialen Medien nun noch mehr als ohnehin schon in diesen turbulenten Tagen. Zigtausende User teilten die Unterlassungserklärung, die Li selbst noch veröffentlicht hatte und die er mit rot eingefärbten Fingerabdrücken hatte unterzeichnen müssen. Darin fordern die Behörden unter anderem: "Wenn Sie nicht lockerlassen und mit Unverschämtheit weiterhin illegalen Aktivitäten nachgehen, wird das Gesetz Sie bestrafen. Verstehen Sie das?"

Ruf nach Meinungsfreiheit

Dieses autoritär arrogante "Verstehen Sie das?" ist im chinesischsprachigen Internet zum geflügelten Wort geworden. Viele empören sich darüber, dass das Virus ohne die aufoktroyierte Schweigepflicht in einem früheren Stadium hätte eingedämmt werden können. Tatsächlich hatten die Gesundheitsbehörden umgehend nach Entdeckung der ersten Krankheitsfälle mit der Isolierung und genaueren Diagnose der Patienten begonnen. Dennoch fühlen sich viele Chinesen im Nachhinein hinters Licht geführt. Sie wurden zu lange im Ungewissen gelassen. "Wir wollen Meinungsfreiheit", schreiben sie nun.

China Wuhan Arzt Li Wenliang Verhörprotokoll wegen Verbreitung von Unwahrheiten
Das Verhörprotokoll vom 3. Januar, gezeichnet mit FingerabdrückenBild: Weibo

Kritik so offen und scharf im Internet zu äußern, ist in diesem Umfang ein Novum im China unter Präsident Xi Jinping. Kollektive Trauer als Ventil zu nutzen, hat hingegen Tradition. Schon mehrmals in der Geschichte der Volksrepublik entzündete sich der Wunsch nach Veränderung am Dahinscheiden respektabler Zeitgenossen, so etwa 1976 als nach dem Tod von Premierminister Zhou Enlai der Ruf nach Reformen laut wurde. Oder 1989, als der Tod von KP-Generalsekretär Hu Yaobang die Studentenbewegung entfachte. Öffentliche Trauerzüge ermöglichten es den Menschen damals, das Versammlungsverbot zu umgehen.

Nun ist Dr. Li nicht Zhou Enlai oder Hu Yaobang. Dennoch gibt es eine Art virtuellen Trauermarsch in den Sozialen Medien. Denn Li, der ein Kind und eine schwangere Frau zurücklässt, war kein furchtlos idealistischer "Whistleblower" à la Julian Assange. Er war noch nicht einmal besonders politisch. Und er war schon gar kein Dissident. Er war einfach nur ein Arzt, der seine Arbeit gemacht hat. Darüber hat er am Ende offen geredet, darunter auch mit der New York Times. "Nachdem ich mich auskuriert habe, möchte ich wieder an die medizinische Front. Ich möchte kein Fahnenflüchtiger sein", so Li. Doch gerade diese Bescheidenheit macht ihn für viele zur Identifikationsfigur und die Tatsache noch schwerwiegender, dass er zum Schweigen gebracht wurde. "Er konnte nicht Lügen", sagte Lis Mutter nach seinem Tod.

Zwiespältige Reaktion auf den Tod der neuen Identifikationsfigur

Der Staat reagiert darauf erstaunlich zwiespältig. Es werden noch immer Beiträge gelöscht, die wegen Dr. Li die Regierung kritisieren. Doch es sind zu viele, um den Fall noch zu ignorieren.

China Wuhan Augenarzt  Li Wenliang gestorben
Der Augenarzt Dr. Li Wenliang starb am vergangenen Freitag im Alter von nur 34 JahrenBild: Weibo

Mit leichter Verzögerung feiern gleichzeitig auch die staatlichen Medien Li Wenliang als Held. Das Zentralkomitee der Partei schickte Ermittler nach Wuhan, um den Fall "gründlich zu untersuchen". Zwei hochrangige Beamte der Gesundheitskommission von Hubei wurden bereits entlassen. Die Maßnahme demonstriere "die Entschlossenheit der chinesischen Regierung". Man werde "Widersprüchen und Problemen niemals auszuweichen", heißt es von offizieller Seite. Dass ihnen das nunmehr nicht jeder so einfach abnimmt, ist offensichtlich. Was beispielsweise aus den anderen sieben Ärzten wurde, die beim Ausbruch des Virus ebenfalls verhört wurden, ist weiterhin geheim. Auch eine Krankenschwester und ein Journalist, die die Situation mit Videos dokumentierten, sind verschwunden.

Noch in der Nacht zu Samstag konnten sich die Staatsmedien nicht entscheiden, ob sie Lis Tod bekanntgeben sollten oder nicht. Für mehrere Stunden machten widersprüchliche Meldungen die Runde. Hu Xijin, der patriotische Chefredakteur der staatlichen Zeitung "Global Times" schrieb daraufhin einen erstaunlichen Kommentar: "Wuhan sollte sich bei Li Wenliang entschuldigen", forderte der Popstar der staatlichen Medien, aber auch bei den Menschen in Wuhan. Am Anfang hätten zwar weder die Polizei noch die Offiziellen das Ausmaß des Virus erkennen können. Später jedoch schon. Da hätten die Behörden doch offen zugeben können, dass sie falsch lagen. "Warum hat kein Offizieller ihn besucht, als er ernsthaft krank war?" fragt Hu und wird dann noch grundsätzlicher: China sei eine Volksrepublik. "Die Menschen sollten im Mittelpunkt aller wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten stehen." Unter diesem Blickwinkel betrachtet sei die "Gesellschaft geschockt" über den Fall. "Wichtig dabei ist", betont Hu weiter, "dieser Mann hat nichts falsch gemacht. Er war nur der erste, der als Arzt sein professionelles Umfeld vor dem gefährlichen Virus gewarnt hat."

"Sie wissen, dass wir wissen, dass sie lügen"

Das ist für chinesische Verhältnisse schon sehr deutlich und zeigt die Schwächen eines Systems, bei dem Transparenz nicht im Mittelpunkt steht, sondern es wichtiger ist, auf keinen Fall etwas falsch zu machen. Und was richtig und was falsch ist, entscheidet die Partei. Der Text zeigt zudem, dass es eine Debatte in den politischen Zirkeln gibt, über die Vor- und Nachteile von Zensur. Immerhin.

Frank Sieren *PROVISORISCH*
DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Schon im vergangenen Jahr hatte Hu einen Post veröffentlicht, in dem er mehr Pluralität forderte: "Es wäre von nationalem Interesse und käme der Stärke und Reife der öffentlichen Meinung in China, der wissenschaftlichen Forschung und der externen Kommunikation zugute". Damals zensierte er sich jedoch wenig später selbst und löschte den Post wieder. Er habe nur einen Vorschlag machen und keine Kontroverse heraufbeschwören wollen, erklärte er. Nun lässt sich die Kontroverse nicht mehr vermeiden. Doch im Grunde tut Hu der Partei, deren Sprachrohr seine Zeitung ist, einen großen Gefallen. Hu fungiert als Seismograph für die Partei, in dem er den Menschen aus der Seele spricht und dabei klug genug ist, nichts zu überzeichnen.

Er warnt im Grunde vor einer Stimmung in der Bevölkerung, die immer mehr an Gewicht gewinnt. So wie das Virus kann man sie nicht mehr ignorieren. "Wir wissen, dass sie lügen; sie wissen, dass wir wissen, dass sie lügen; und trotzdem lügen sie weiter", lautete ein in den vergangenen Tagen vielgeteilter Post auf der Plattform Weibo. "Eine Gesellschaft sollte mehr als nur eine Stimme haben", hatte Dr. Li selbst noch in einem Interview vom Krankenbett aus erklärt. Vielleicht ist das nun der Anfang, um in der chinesischen Öffentlichkeit über mehr Transparenz, Pluralität und Vielfalt an Meinungen in allen Medien nachzudenken, ohne gleich in den Verdacht zu geraten, die Kommunistische Partei stürzen zu wollen oder das System als Ganzes anzugreifen. Das wäre ein großer Fortschritt. Dr. Li jedenfalls hätte das sicher so gewollt.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.