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Politik

Sierens China: Bordstein-Economy

Frank Sieren
17. Juni 2020

Peking will im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit unter anderem den verachteten Straßenhandel wiederbeleben. Das ist gut für die Wirtschaft, aber angesichts neuer Corona-Fälle auch riskant, meint Frank Sieren.

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China Straßenküche in Hongkong
Die traditionellen Garküchen sind fast überall aus dem Straßenbild in China verschwundenBild: picture-alliance/dpa/A. Hofford

Um die Konjunktur anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit nach der Corona-Krise zu verringern, hat Chinas Premierminister Li Keqiang einen überraschenden Vorschlag gemacht: Die Chinesen sollen sich wieder großflächig dem Straßenverkauf widmen. Die Stadt Chengdu habe erst kürzlich mit der Errichtung 36.000 mobiler Verkaufsstände quasi über Nacht 100.000 Arbeitsplätze geschaffen, pries der Politiker die Idee.

Lis Vorstoß sagt viel darüber, wie die Wirtschaftsplaner nun mit allen Mitteln versuchen, den Menschen wieder Arbeit zu geben, nachdem die Virus-Krise weitgehend überwunden ist. Denn in den vergangenen Jahren galten Händler, die am Straßenrand Kleidung, Street-Food oder andere Dinge verkauften, offiziell als Relikt der Vergangenheit, das nicht mehr in Chinas Moderne passt. Kommunale Behörden verdammten die Straßenmärkte als Orte von Chaos und Rückständigkeit, schlechter Hygiene und minderwertiger Produkte. In vielen großen Städten wurden sie für illegal erklärt. Der Onlinehandel sollte sie ersetzen.

Rückschlag durch Corona

Dass das Übel, das man so lange bekämpfte, nun wieder staatlich gefördert werden soll, hat auch mit Pekings "Jahrhundertziel" zu tun: Partei- und Staatschef Xi Jinping hatte bereits im Herbst 2017 angekündigt, bis Ende 2020 die "absolute Armut" im Land zu beenden und aus China eine Gesellschaft mit "bescheidenem Wohlstand" machen zu wollen. Laut nationalem Statistikamt hat die Volksrepublik zwischen 1978 und 2017 mehr als 740 Millionen Menschen aus extremer Armut befreit, also im Schnitt etwa 19 Millionen Menschen pro Jahr. Die Corona-Krise ist für Pekings Planer jedoch ein Rückschlag.

Frank Sieren *PROVISORISCH*
DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Mehrere Dutzend Städte, darunter Changchun, Nanjing und Changsha, haben nun angekündigt, die sogenannte "Street Vending Economy" zu fördern. Staatsmedien würzen den Vorstoß mit Geschichten über Straßenverkäufer, die sich von ihren Erlösen Luxusautos leisten können. Ein Gewährsmann solcher Erfolgsgeschichten ist Jack Ma, Mitbegründer des E-Commerce-Riesen Alibaba, der einst auf der Straße Kunsthandwerk verkaufte, um die Miete für sein erstes Ladenlokal zu bezahlen. Alibaba und sein Rivale JD.com haben dann auch gleich Mikrokredite zur Unterstützung der Straßenhändler angekündigt.

In der Bevölkerung stößt die Idee zum größten Teil auf Begeisterung. Die ältere Generation fühlt sich an die Aufbruchsstimmung der späten 1970er- und 1980er-Jahre erinnert, als Deng Xiaoping unter dem Motto "Reich werden ist ruhmreich" nach Jahren der staatlichen Gängelung der Privatwirtschaft den Weg frei machte. Damals schossen die Händler nur so aus dem Boden. Der Reichtum schien sprichwörtlich auf der Straße zu liegen. Der große Unterschied zu damals: Die Chinesen hatten nur wenig, aber viel zu gewinnen. Heute besteht vor allem die Gefahr, das Erreichte wieder zu verlieren.

Symbolbild Straßenhandel in Peking China
Der Straßenhandel - wo grundsätzlich mit Bargeld bezahlt wird - gilt als unhygienischBild: AP

Konsum als entscheidende Größe

Lis Empfehlung ist daher anders als zu Dengs Zeiten ein Rückschritt, um beim Fortschritt wieder in den Tritt zu kommen. Der Konsum macht inzwischen rund 60 Prozent des chinesischen Sozialprodukts aus. Der Umsatz im Einzelhandel lag im Mai immer noch 2,8 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Ein Viertel davon wird online verkauft. Im vergangenen Jahr waren es 20 Prozent. In der Mittelschicht läuft das Geschäft wieder an.

Die ärmeren Menschen jedoch hat die Corona-Krise besonders zurückgeworfen: Mindestens 600 Millionen Menschen müssen mit einem monatlichen Einkommen von 1.000 Yuan zurechtkommen, rund 125 Euro - oftmals zu wenig, um sich eine Wohnung in einer mittelgroßen Stadt mieten zu können. Die Arbeitslosenquote liegt laut offiziellen Zahlen derzeit bei sechs Prozent. Doch sie deckt nur die Städte ab und enthält nicht die Millionen Wanderarbeiter, die aufgrund der Pandemie gezwungen waren, aufs Land zurückzukehren. Hinzukommt, dass in China allein dieses Jahr 8,7 Millionen Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt drängen.

So gesehen muss Peking nun dringend die Schwerpunkte seiner Politik verlagern. Lag der Fokus des Staates in den vergangenen Jahren vor allem auf Chinas Mittelschicht, die das Wachstum trug, und mit deren wachsendem Wohlstand der Staat seine Macht legitimierte, richtet die Regierung die Aufmerksamkeit nun auf die einkommensschwachen Schichten, die immerhin noch rund 43 Prozent der Bevölkerung ausmachen und kaum auf Erspartes zurückgreifen können.

China Coronavirus Xinfadi Markt in Beijing
Fleischstände mit Xinfadi-Markt in Peking - hier soll das Zentrum der neuen Infektionswelle liegenBild: Reuters/T. Wang

Deutliche Kritik in staatlichen Medien

Die politischen Reaktionen auf den Vorstoß sind widersprüchlich. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Zhou Tianyong schätzt, dass durch landesweite Straßenverkäufe mehr als 50 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. In einem scharf formulierten Kommentar hingegen schrieb etwa die 'Beijing Daily', das offizielle Sprachrohr der Hauptstadt, die Straßenverkaufswirtschaft sei nicht für Peking geeignet, da sie "unhygienisch und unzivilisiert" sei und Lärmbelästigung und Verkehrsprobleme verursache. "Die Standwirtschaft ist nicht für Städte ersten Ranges wie Peking und Shanghai geeignet", erklärte auch der staatliche Sender China Central Television. Ihre Wiedereinführung sei "gleichbedeutend mit einem Rückschritt von Jahrzehnten" und "eine Abkehr von qualitativ hochwertigem Wachstum." Das ist ziemlich deutlich.

Diese Kritik gegenüber der offiziellen Linie ist bemerkenswert, wird aber verständlicher, wenn man sich ansieht, mit welch drastischen Mitteln wohlhabende Metropolen wie Peking in den vergangenen Jahren ihr Stadtbild modernisiert und vermeintliche Schandflecke ohne Rücksicht auf die Kleinunternehmer ausradiert haben. Die Verbote mobiler Garküchen und fliegender Händler wurden dabei oftmals von sogenannten Chengguan durchgesetzt - niedrig bezahlten städtischen Ordnungskräften, die oft recht rabiat vorgingen.

China Coronavirus Xinfadi Markt in Beijing
Der gesperrte Xinfadi-Markt in Peking. Auch die umliegenden Stadtviertel wurden inzwischen abgeriegeltBild: Reuters/

Lokalpolitik riskiert ihre Glaubwürdigkeit

Kaum jemand aus dem Verwaltungsapparat wird in China so offen verachtet wie die Hilfstruppe der Chengguan. In Peking wurden im Winter 2017 dann auch noch im Namen der öffentlichen Sicherheit Zehntausende von Wanderarbeitern ohne Vorankündigung aus ihren oftmals kellerartigen Behausungen vertrieben. Die Räumungen der sogenannten "Low-End Population", so das Schlagwort damals, sorgte in der Bevölkerung für Empörung und Solidaritätsbekundungen. Wenn die Lokalregierung jetzt zurückrudert, verliert sie an Glaubwürdigkeit und riskiert Proteste, zumal das Corona-Virus dieser Tage rund um den Pekinger Xinfadi-Markt im Stadtviertel Fengtai wieder aufgeflammt ist, im Umfeld elf Wohnviertel abgeriegelt wurden und die Schulen in ganz Peking wieder geschlossen sind.

Es wird also immer schwieriger für die Regierung, zwischen den Wünschen der neuen Mittelschicht und den Nöten der Armen, zwischen Langzeitplänen der Zentralregierung und einer zunehmend selbstbewusst agierenden Lokalpolitik die richtige Balance zu finden. Die Corona-Krise hat dies sichtbarer werden lassen denn je.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.