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Schaulaufen in der Stromschnelle

Frank Sieren
2. Oktober 2020

Auf der Pekinger "Auto China 2020", der ersten großen internationale Automesse seit Beginn der Corona-Pandemie, zeigt sich, dass es endgültig keine Option mehr ist, sich auf Bewährtes zu verlassen, meint Frank Sieren.

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Auto China 2020 | Geely Preface
Fressen die chinesischen Hersteller ihre Konkurrenten? Ein Geely Preface bei der "Auto China 2020"Bild: Thomas Peters/Reuters

Weder das halbe Jahr Verspätung, noch Unannehmlichkeiten wie Hotelquarantäne, Maskenpflicht und Mindestabstand verderben die Stimmung bei der Pekinger "Auto China 2020". Allein schon, dass das gut besuchte Event überhaupt stattfindet, hat Symbolkraft: Chinas Automarkt, der größte und wichtigste der Welt, ist über den Berg. Die nach wie vor schwächelnde internationale Autoindustrie muss sich noch mehr als ohnehin schon an der Nachfrage der Volksrepublik orientieren. Hier werden nicht nur die größten Umsätze erzielt, sondern auch die Standards für Zukunftstechnologien gesetzt.

Dass die Zukunft im Zeichen der Elektromobilität steht, verdeutlicht die Messe einmal mehr: Gut 25 Prozent des 200.000 Quadratmeter großen Messegeländes sind für Fahrzeuge mit E-Antrieb reserviert - mehr als je zuvor. Heimische Hersteller wie Great Wall, Nio, Xpeng und Geely stellten ihre neuen, smart vernetzten E-Modelle vor.

Deutsche Hersteller setzen auf Bewährtes

Die Deutschen setzen vor allem auf Bewährtes wie die Mercedes-Benz E- und S-Klasse, teilweise in für den chinesischen Markt leicht abgewandelter Ausführung, etwa mit mehr Beinfreiheit. Die Premiummarken der Deutschen verkaufen sich nach wie vor gut in China. BMW, Mercedes und Audi konnten im Vergleich zum Vorjahr zulegen.

Peking Auto China 2020 Automesse
Das Publikum kommt zahlreich zur ersten Automesse seit Ausbruch der Corona-PandemieBild: Greg Baker/AFP/Getty Images

Noch gibt es in China ein Nebeneinander von reinen E-Fahrzeugen, Hybriden und modernen Verbrennungsmotoren. Dass es so nicht weitergeht, ahnen die deutschen Autobauer natürlich: Laut der Unternehmensberatung McKinsey planen Autohersteller weltweit  bis 2024 600 neue E-Auto-Modelle auf den Markt zu bringen: Die Chinesen liegen mit 169 Modellen vorne, gefolgt von Japan mit 145 und Deutschland mit 102.

Jeder fünfte VW in China bereits elektrisch

Um gegen die Konkurrenz zu bestehen, hat VW eine "voll elektrifizierte" neue Ära ausgerufen. Bis zum Jahr 2024 wollen die Wolfsburger in China rund 15 Milliarden Euro in die E-Mobilität investieren und mit ihren chinesischen Partnerunternehmen in den nächsten fünf Jahren 15 neue Elektroauto-Modelle auf den Markt bringen. Jeder fünfte in China produzierte Volkswagen fährt bereits ganz oder teilweise elektrisch. In Europa ist VW von solchen Werten noch weit entfernt. Der chinesische E-Automarkt ist der fortschrittlichste der Welt, was Qualität, Reichweite, Preis und Ladeinfrastruktur angeht. Die Verkäufe von Fahrzeugen mit alternativen Antrieben - Elektro, Hybrid und Wasserstoff - kletterten in China im August im Vergleich zum Vorjahr um 25,8 Prozent.

Frank Sieren *PROVISORISCH*
DW-Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in PekingBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Daimler, das seinen Jahresabsatz in China zwischen 2015 bis 2019 fast verdoppeln konnte, will sein E-Angebot hier ebenfalls ausweiten und hat dafür unter anderem mit dem chinesischen Batteriehersteller Farasis Energy eine neue Kooperation geschlossen. Die Stuttgarter arbeiten bereits eng mit dem chinesische Staatskonzern BAIC zusammen, der seinen Anteil an Daimler angeblich von fünf Prozent auf rund zehn Prozent aufstocken will. Damit würde BAIC Geely-Chef Li Shufu, der momentan 9,96 Prozent der Daimler-Aktien besitzt, als größten Anteilseigner ablösen.

BMW wiederum hat diese Woche mit der Produktion seines rein elektrischen iX3 im chinesischen Shenyang begonnen. Der Stadtgeländewagen ist eine Kooperation mit dem chinesischen Partner Brilliance China Automotive. Auch mit dem neuen Elektro-Flaggschiff iX5 und dem auf der Messe vorgestellten i4 haben es die Bayern auf den chinesischen Markt abgesehen.

Dringend überfällig, aber noch zu wenig

Das alles ist dringend überfällig, ist insgesamt aber noch zu wenig. Laut dem Automobilverband VDA haben die deutschen Autohersteller in China gerade einmal einen Marktanteil von zwölf Prozent. International führt Tesla als Anbieter von Elektroautos, gefolgt von BYD aus Shenzhen. Die Deutschen kommen erst auf den Plätzen fünf (BMW) und sechs (VW). Laut McKinsey könnte Deutschland bereits 2021 mit mehr als 1,7 Millionen produzierten E-Fahrzeugen China als Weltmarktführer für E-Autos überholen.

Auto China 2020 | Geely's Icon NEU
Den Kompakt-SUV Geely Icon gibt es für umgerechnet 13.000 Euro - da kann kein deutscher Hersteller mithaltenBild: Tingshu Wang/Reuters

Das ist optimistisch: Nach Corona räumt Peking dem heimischen Markt und seinen Herstellern noch mehr Priorität ein als ohnehin schon. Peking will die Chance nutzen, um die nun noch schwächere europäischen Konkurrenz, die beim Verbrennungsmotor kaum einzuholen war, auf dem Feld der E-Mobilität endgültig abzuhängen. Das Ziel: Bis 2025 sollen 25 Prozent der neu zugelassenen Fahrzeuge in China mit alternativen Antrieben fahren. Im vergangenen Jahr waren es laut der China Association of Automobile Manufacturers (CAAM) nur rund fünf Prozent.

China will vor 2060 klimaneutral sein

Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat vor den Vereinten Nationen angekündigt, sein Land "vor 2060" klimaneutral zu machen. Dass in China bald ein Verbot von Verbrennungsmotoren kommen wird, gilt als wahrscheinlich. Das träfe sich auch mit den Bedürfnissen der wachsenden Mitteschicht, die mehr und mehr auf Nachhaltigkeit setzt. Seit Jahren unterstützt Peking die E-Auto-Industrie. Wegen der Corona-Krise hat sich die chinesische Regierung entschlossen, die Subventionen später als geplant auslaufen zu lassen. Im ersten Quartal waren die Verkaufszahlen der in China  "New Energy Vehicles" (NEV) genannten Fahrzeuge im Vorjahresvergleich um 60 Prozent gesunken. Hoffnungsträger wie Byton mussten sich bis auf weiteres vom Markt verabschieden.

Starke Konkurrenten wie Nio, Li Auto oder Xpeng Motors, das Ende August in New York an die Börse gegangen ist, schließen die Lücke jedoch ohne Probleme. Laut McKinsey haben chinesische Fahrzeuge ein "bis zu doppelt so gutes Preis-Reichweite-Verhältnis" wie ausländische Anbieter. Das läge zum einen daran, dass "70 bis 80 Prozent der Komponenten von lokalen Zulieferern kommen". Eine starke Modularisierung und Standardisierung mache die Produktion billiger.

Chinesische Hersteller unabhängig vom Weltmarkt

Vor allem im unteren E-Auto-Segment haben lokale Anbieter die Nase vorn. Derzeit ist etwa der Hongguang Mini aus dem Hause SAIC-GM-Wuling, der nur rund 3700 Euro kostet, der Renner in China. In nur 50 Tagen wurden rund 30.000 Stück des kompakten Viersitzers bestellt. Billige, qualitativ hochwertige Einstiegmodelle sind für die Newcomer aus China wichtig. Nur so können sie Kunden an ihre noch unbekannten Marken binden.

Auto China 2020 | Ora Great Wall Motors NEU
Besonders E-Autos der Kompaktklasse finden Publikumsinteresse. Hier der Ora Good Cat, ähnlich groß wie ein VW GolfBild: Tingshu Wang/Reuters

Da der chinesische Markt weiter wächst, spielt es für sie immer weniger eine Rolle, ob sie sich auch auf dem Weltmarkt durchsetzen können. Und was der lokale Markt verlangt, hat Elon Musk weit besser verstanden als Daimler und BMW. Bei den Themen Entertainment, Konnektivität, autonomen Fahranwendungen und intelligenten Fahrassistenzsystemen hat Tesla einen großen Vorsprung. Und an dem orientieren sich die Chinesen mehr und mehr, zumal Elon Musk selbst immer mehr in China produzieren lässt. Am Tesla-Standort in Shanghai soll die Produktion in den kommenden Jahren auf bis zu eine Million Autos pro Jahr steigen. Auch ein kompaktes, bezahlbares Tesla-Elektroauto für den Weltmarkt könnte hier entstehen.

Ob er sich zu abhängig vom chinesischen Markt macht, fragt sich Elon Musk im Gegensatz zu den Europäern nicht. Er nutzt einfach die Chance. Auf dem offiziellen WeChat-Account des Unternehmens hat Musk im Sommer zum Designwettbewerb für ein heimisches Modell aufgerufen. Man nehme auch Entwürfe von Personen an, die "keine Autodesigner" sind. Man stelle sich einmal vor, Daimler ließe sich sein nächstes Auto von einem Otto(motor) Normalverbraucher designen oder Volkswagen riefe dazu eine Volksabstimmung aus. Eins ist klar: Für die Deutschen wird der Spielraum immer kleiner. Sich auf Bewährtes zu verlassen, ist keine Option mehr.