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Politik

"Sie wissen, dass ihre Eltern leiden"

Janina Semenova
29. Dezember 2016

Allein geflohene Minderjährige haben in Deutschland häufig nur noch subsidiären Schutz und können ihre Familie nicht nachholen. Die Politik verweist auf die Härtefallregelung. Kritiker sprechen von ausgehebelten Rechten.

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Deutschland minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Dresden, Sachsen
Bild: picture-alliance/dpa/S. Kahnert

Sie fliehen ohne ihre Eltern und suchen Schutz: Über 34.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben von Januar bis November 2016 in Deutschland Asyl beantragt. Die meisten der jungen Geflüchteten bekommen in Deutschland mittlerweile nur noch subsidiären Schutz. Im Jahr 2016 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über rund 7800 Asylanträge entschieden – fast 2160 Mal wurde der subsidiäre Schutz verliehen und kein Asyl zugesprochen.

Mit dem sogenannten subsidiären Schutz können die Minderjährigen zwar erst einmal ein Jahr in Deutschland bleiben, sind aber nicht als Flüchtlinge anerkannt. Und was für viele Minderjährige wahrscheinlich noch schlimmer ist: Sie dürfen ihre Familie zunächst für zwei Jahre nicht nachholen.

Als rechtliche Grundlage für die Flüchtlinge dient die Genfer Flüchtlingskonvention - bei Minderjährigen zusätzlich noch die UN-Kinderrechtskonvention. Kritiker sehen die Kinderrechtskonvention beim subsidiären Schutz aber nicht mehr beachtet: "Es verstößt natürlich gegen das Kindeswohl, wenn die Eltern nicht zu ihrem Kind kommen können, obwohl das Kind natürlich das Recht dazu hat", sagt Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat der DW. Das nehme man mit dem subsidiären Schutz für allein geflohene Kinder und Jugendliche ganz bewusst in Kauf.

"Hürden viel zu hoch"

Eigentlich gibt es aber noch die sogenannte Härtefallregelung, mit der der Familiennachzug im Einzelfall bei "dringenden humanitären Gründen" noch einmal geprüft werden soll. Zuständig ist das Auswärtige Amt. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Grünen wird diese Regelung in der Praxis allerdings nicht umgesetzt.

Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge sitzen in einem Klassenzimmer in Brandenburg (Foto: picture-alliance/dpa/B. Settnik)
Minderjährige Flüchtlinge beim Deutschunterricht in BrandenburgBild: picture-alliance/dpa/B. Settnik

Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat kann das bestätigen:"Die Praxis sieht so aus, dass davon [der Härtefallregelung, Anmerk. d. Red.] überhaupt nicht Gebrauch gemacht wird." Das sei auch der Trick bei der Gesetzesänderung gewesen. Er habe für Minderjährige selbst Anträge gestellt, die immer abgelehnt worden seien. "Die Hürden sind einfach viel zu hoch."

Auch Thomas Meysen, Leiter des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht, spricht von einer "restriktiven Handhabung". Der Familiennachzug von minderjährigen Flüchtlingen sei mittlerweile extrem erschwert worden.

Viele minderjährige Flüchtlinge in Deutschland sind durch die Erlebnisse in ihrer Heimat und die Flucht traumatisiert. Die Angst um ihre Familie, die zurückgeblieben ist, sei für die Kinder eine zusätzliche Belastung, sagt Meysen: "Sie wissen, dass ihre Eltern leiden und in Gefahr sind."

Das Auswärtige Amt erklärte, dass es nicht zutreffe, dass es keine Fälle gegeben habe. Die Härtefälle würden allerdings nicht statistisch erfasst. Das Auswärtige Amt habe 2016 allerdings in den ersten drei Quartalen weltweit rund 1500 Visa für den Elternnachzug ausgestellt. Ein Großteil davon sei an syrische Flüchtlinge gegangen.

Allein in Deutschland: Flüchtlingskinder

Auch unter den syrischen Flüchtlingen erhalten mehr Minderjährige nur noch subsidiären Schutz: Im Jahr 2015 gab es noch keine Fälle, während zwischen Januar und November 2016 fast 1800 syrische Kinder und Jugendliche nur einen subsidiären Schutz erhalten haben. Das teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der DW auf Anfrage mit.

"Atempause" für die Kommunen

Der Grund für den beschränkten Familiennachzug ist das Asylpaket II, das im März in Kraft getreten ist. Für den Städte- und Gemeindebund war die Regelung des Asylpakets II zumindest aus kommunaler Sicht eine "Atempause". "Ein grenzenloser Familiennachzug würde die Städte und Gemeinden derzeit völlig überfordern", sagt Ursula Krickl, Sprecherin des Städte- und Gemeindebund.

Die Kommunen zahlen nämlich für die Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Sobald diese in Deutschland einreisen, ist das Jugendamt für sie zuständig. Bei stationären Einrichtungen kostet die Unterbringung von Minderjährigen manchmal sogar 200 bis 300 Euro pro Tag. Für Gastfamilien zahlen die Kommunen etwa 600 bis 800 Euro pro Monat. Aber trotzdem gilt laut Ursula Krickl: "Jeder unbegleitete ausländische Minderjährige sollte diese Hilfe bekommen, die er oder sie entsprechend benötigt und danach handeln die Jugendämter auch vor Ort."

Doch ein Familiennachzug könnte dem Jugendamt auch helfen: "Wenn sie ihre Familie hätten, würde sie das entlasten und der Jugendhilfe die Entwicklung einer Perspektive mit den Jugendlichen erleichtern", sagt Thomas Meysen vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht.

Kommentarbild PROVISORISCH DW Autorin Janina Semenova
Janina Semenova DW-Korrespondentin in Riga@janinasem