Sensationsfund in der Eremitage
14. Februar 2020Ihre Geschichte erzählt vom Verlieren und Wiederfinden. 1836 gruben italienische Landarbeiter in Calvatone, einer Siedlung unweit der norditalienischen Stadt Cremona, drei vergoldete Bronzeteile aus: einen Frauenkopf, einen Torso mit rechtem Arm und eine Kugel. Zusammengesetzt ergaben die Teile eine anmutige Frauenfigur, die grazil über dem Himmelsglobus schwebt. Die Inschrift auf der Kugel, die den Sieg der Römer über die Barbaren preist, verweist auf die Zeit der Doppelherrschaft von Marc Aurel und Lucius Verus und erlaubt damit eine genaue Datierung: 161-169 nach Christus.
Um 1840 entdeckte der damalige Direktor der Gemäldegalerie zu Berlin, Gustav Friedrich Waagen, auf einer Einkaufsreise in Italien die Statue im Angebot im Museum von Brescia. Er begeisterte sich für die antike Schöne und überzeugte seinen Chef, den damaligen Generaldirektor Ignaz von Olfers, die Statue für 9.000 österreichische Lira zu erwerben und der königlichen Sammlung einzuverleiben. Die stolze Summe kam, abzüglich der Provision, dem Finder zugute.
Berlins Stolz und Kriegselend
Die nächsten 100 Jahre verbrachte die Göttin in Berlin, wo sie zunächst auf einer überdachten Verbindungsbrücke zwischen Altem und Neuem Museum majestätisch thronte und zu einem Symbol der Berliner Antikensammlung avancierte – ähnlich wie die Nike von Samothrake im Louvre. Die Fachwelt bewunderte die Perfektion der römischen Plastik und ihre Einmaligkeit: eine so gut erhaltene Frauenfigur von menschlicher Größe (170 Zentimeter) in vergoldeter Bronze gibt es selten auf der Welt. Zahlreiche Gipsabgüsse für andere europäische Museen wurden in den Berliner Gipswerkstätten angefertigt. Im Inventar der Berliner Antikensammlung hat die Victoria von Calvatone die Nummer Sk 5.
1939 wurde das Werk zum Schutz vor Luftangriffen mit anderen wertvollen Objekten der Museumsinsel in die Neue Münze am Molkenmarkt evakuiert. Im März 1945 wurde das Gebäude bei Bombenangriffen zerstört, der unterirdische Tresorraum überflutet. Im Sommer 1945 fischten die Brigaden der Roten Armee die Plastik aus dem Wasser. Der Moskauer Archäologe Wladimir Blawatski, ein renommierter Antikenforscher, wurde herbestellt, er erkannte Victoria und veranlasste den Abtransport in die Sowjetunion. Im Zuge der "kompensatorischen Restitution", so die russische Sprachregelung für den unpopulären Begriff "Beutekunst", verteilte man die Objekte willkürlich auf Museen in Moskau, Leningrad und der Provinz auf. Die dazugehörige Dokumentation jedoch ging an das Komitee für Kulturgüter in Moskau.
Jahrzehnte der Ungewissheit
"Man kann sagen: In den Wirren des Krieges büßte Victoria ihre Identität ein", sagt jetzt rückblickend Anna Aponasenko, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Petersburger Eremitage. "Sie kam zu uns damals ohne jegliche Papiere. Sogar die Berliner Inventarnummer war weggewischt. Damit war das Objekt absolut gesichtslos und für viele Jahrzehnte verschollen."
Victoria landete als "minder wertvolles" Objekt in einer Holzkiste im Magazin für französische Kunst des 17. Jahrhunderts. Man vermutet in der Eremitage, dass an dieser Zuordnung die "delikate Pose" und etwas frivole Garderobe der langbeinigen Dame schuld gewesen sein könnten. "Da dachte man automatisch an Frankreich", lacht Anna Vilenskaja, Kunsthistorikerin in der Abteilung für westeuropäische Kunst der Eremitage und eine der Entdeckerinnen der Victoria. Zum Verständnis: Im Petersburger Museum und seinen Depots lagern mehr als drei Millionen Objekte. Allein die Antikensammlung zählt über 106.000 Exponate.
Deutsch-russischer Museumsdialog: Tugend aus Not
Tatsächlich: Genau 70 Jahre nach dem Verschwinden wurde Victorias Spur wiederentdeckt. Bei einer Studie der Abtransport-Dokumentation im Moskauer Archiv fand Anna Aponasenko Hinweise auf den Verbleib der Skulptur. Die Spur führte zu jener alten Kiste mit vermeintlich frivolem Inhalt. "Da war die Freude bei uns ganz groß", gibt Martin Maischberger zu, stellvertretender Direktor der Berliner Antikensammlung. "Man kann doch sagen, dass 'Victoria' der größte Kriegsverlust für die Antikensammlung war".
Dass sich die Petersburger Fachfrauen Aponasenko und Vilenskaja überhaupt auf die Suche nach dem verschollenen Exponat aus Berlin begeben hatten, hängt mit dem deutsch-russischen Museumsdialog zusammen – jener Initiative aus Fachleuten beider Länder, die sich um einen wissenschaftlichen Austausch der russischen und deutschen Museen und Archive bemüht. In den fast 15 Jahren ihres Bestehens hat der Dialog, maßgeblich geprägt vom Chef der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger, und dem russischen Museumsfürsten und Eremitage-Direktor Michail Piotrowski, viele gemeinsame Projekte angestoßen. Dazu zählen etwa die Ausstellungen "Merowingerzeit" (2007) und "Bronzezeit: Europa ohne Grenzen"(2013).
Dank dieser großen Forschungs- und Ausstellungsprojekte kamen zahlreiche "Beutekunst"-Objekte aus Deutschland - wie etwa der berühmte Goldschatz von Eberswalde - nach Jahrzehnten in russischen Geheimdepots wieder ans Tageslicht. "Wir bewegen uns antizyklisch", sagt Hermann Parzinger. Die Museumsleute erzielen Erfolge, wo die Politik sich längst in einer Sackgasse sieht: Russland erklärte 1998 per Duma-Beschluss die deutsche Beutekunst zu russischem Staatseigentum, als Kompensation für die horrenden Kriegsverluste russischer Museen im Zweiten Weltkrieg. Deutschland dagegen beharrt auf internationalem Recht, nach der Haager Konvention dürfen Kulturgüter nicht zu Kriegsbeute degradiert werden. Einstweilen macht die Rechtslage gemeinsame Ausstellungen in Deutschland unmöglich: Auch wenn Russland die Leihgabe bewilligen würde, wäre die deutsche Staatsanwaltschaft verpflichtet, die Objekte zu beschlagnahmen, sobald sie deutschen Boden erreichen. In dieser verfahrenen Situation setzen russische und deutsche Fachleute auf Kooperation und Austausch - jenseits der großen Politik. "In gewisser Weise haben wir die Not zur Tugend gemacht", so Hermann Parzinger. Intensität und Qualität der Kooperationen seien einmalig in der Museumswelt.
Jetzt soll die schöne Victoria offenbar in die ständige Sammlung der Eremittage integriert werden. Ihre Einverleibung als Beutekunst-Objekt aus Deutschland folgt prominenten Beispielen - dem "Priamos-Schatz", ein Fund von Heinrich Schliemann, im Puschkin-Museum in Moskau oder dem aus Potsdam stammenden Rubens-Gemälde "Tarquinius und Lucretia". Bis dahin ist sie Vorbotin des nächsten deutsch-russischen Gemeinschaftsprojekts, denn im Juni 2020 öffnete die dritte Ausstellung der "Europa ohne Grenzen"-Serie. Die erkundet die Eisenzeit. Ausstellungsorte sind Sankt Petersburg und Moskau.
Victoria, Diana, Aurora?
Tröstlich ist aus deutscher Sicht auch, dass Victoria begonnen hat, ihre Geheimnisse preiszugeben: "An der Skulptur kann man gut die Geschichte der Restaurierungskunst betrachten", sagt der Leiter der Restaurierungswerkstätten für Edelmetall in der Eremitage, Igor Malkiel. So stellten die Fachleute etwa fest, wann die majestätischen Flügel ausgeführt worden sind.
Zwar wusste man schon vorher, dass sie kein originaler Bestandteil der römischen Plastik sind; doch wer die Flügel hinzugefügt hat und wann genau, war bis vor kurzem unbekannt. Ihre schweren Bronzeflügel erhielt Victoria im Jahre 1844 in Berlin, möglicherweise von Christian Daniel Rauch. "Man folgte dabei der bekannten Ikonografie der Victoria-Darstellung", so Malkiel, "ignorierte dabei aber, dass die antike Dame einen Fellüberwurf trägt. Womöglich ist es eine Diana. Oder eine Aurora, die über den Himmelsglobus schwebt."
Seit dem 19. Dezember 2019präsentiert nun das Petersburger Museumdie Skulptur in einem ihrer schönsten Säle, dem "Römischen Hof" der Neuen Eremitage. Auch eine im Auftrag der Eremitage gedrehte Filmdokumentation mit dem Titel "Geschichte eines Meisterwerks" feiert die Wiederkehr der launigen Göttin und erzählt detailverliebt ihre Geschichte zwischen Calvatone, Berlin und Sankt Petersburg. Ob die Skulptur jemals wieder in Berlin stehen wird, ist offen.