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Schizophrenie: Bahnbrechende Entdeckung

Clare Roth
7. April 2022

Neu entdeckte Genmutationen liefern Hinweise, ob und warum eine Person an Schizophrenie erkrankt. Dies könnte zur Verbesserung der medikamentösen Behandlung beitragen.

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Junger Mann sitzt auf dem Boden und verbirgt sein Gesicht an der Wand
Von Schizophrenie sind häufig Teenager oder Menschen in den 20ern betroffenBild: Andriy Popov/PantherMedia/picture alliance

Schizophrenie tritt in der Regel bei Teenagern oder bei jungen Erwachsenen in den 20ern auf. Dabei handelt es sich um eine schwere psychische Erkrankung, die durch Halluzinationen, psychotische Phasen und Realitätsverlust gekennzeichnet ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass etwa einer von 300 Menschen weltweit an einer Schizophrenie erkrankt ist.

Aber selbst Experten wissen nicht wirklich, was im Gehirn vor sich geht. Warum tritt die Krankheit auf und wie können wir sie behandeln?

"Unser Wissen über Schizophrenie geht gegen Null", sagt Stephan Ripke, Forscher an der Berliner Charité. Ripke ist Mitautor einer von zwei neuen Forschungsarbeiten über Schizophrenie, die in der Wissenschaftszeitschrift Nature veröffentlicht wurden.

Die beiden internationalen Forscherteams haben Genmutationen entdeckt, die unser Wissen über die Schizophrenie grundlegend erweitern und endlich die Entwicklung von passgenauen Medikamenten ermöglichen könnten.

Sie entdeckten mindestens zehn Genmutationen, die die Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung stark beeinflussen. Und 120 weitere Mutationen könnten eine zentrale Rolle spielen.

Auf dem Weg zu neuen Medikamenten

Es handelt sich zwar um Grundlagenforschung, die wahrscheinlich keine unmittelbaren Auswirkungen für Menschen mit Schizophrenie haben wird. Aber möglicherweise können die Ergebnisse in naher Zukunft zu besseren Medikamenten für Schizophrenie führen.

Zwar gibt es bereits Medikamente, aber sie bekämpfen nicht die eigentliche Ursache der Erkrankung. Vielmehr lindern die heute verwendeten Präparate lediglich die Auswirkungen der Krankheit.

Die heutigen Schizophrenie-Medikamente beruhen immer noch auf einer Entdeckung aus den 1950er Jahren, so Ripke. Das erste antipsychotische Medikament war Chlorpromazin, das auch heute noch bei dieser Krankheit verschrieben wird. Chlorpromazin blockiert die Dopaminrezeptoren einer Person. Es gibt noch weitere antipsychotische Medikamente, die jedoch alle ähnlich wie Chlorpromazin wirken.

Chlorpromazin wurde ursprünglich als Narkosemittel entwickelt. Seine Verwendung in der Psychiatrie ergab sich zufällig, als Ärzte feststellten, dass das Medikament Halluzinationen bei Psychiatriepatienten verhindern konnte.

"Es war nicht so, dass jemand einen kaputten Dopaminrezeptor gefunden oder hohe Dopaminwerte im Blut oder im Gehirn gemessen hätte oder so etwas", sagt Ripke. "Es war nur eine zufällige Entdeckung. Es kam nie aus der Forschung."

Mit dem jetzt zusätzlich gewonnenen Wissen über die Vorgänge im Gehirn bei der Entstehung einer Schizophrenie ließen sich in Zukunft vielleicht bessere Medikamente zur Behandlung entwickeln, so Ripke.

Schizophrenie: 120 Gene könnten wichtig sein

Die beiden in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Artikel befassen sich mit der Genetik der Schizophrenie aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln. Die erste Studie wurde vom Psychiatric Genomics Consortium (PGC) durchgeführt, das von Wissenschaftlern der britischen Universität Cardiff geleitet wird.

Die Forschenden verfolgten darin einen sehr breit angelegten Ansatz, indem sie das gesamte Genom, also das gesamte genetische Material eines Organismus, untersuchten, um nach einer bestimmten genetischen Veränderung zu suchen, die das Risiko für eine Schizophrenie-Erkrankung erhöht.

Bei der Analyse der DNA von etwa 77.000 Personen mit Schizophrenie und etwa 244.000 Menschen ohne Schizophrenie entdeckten sie fast 300 Bereiche des Genoms, die mit dem Schizophrenierisiko genetisch verbunden sind. Innerhalb dieser Regionen entdeckten sie 120 Gene, die bei der Entstehung der Krankheit eine Rolle spielen könnten.

Sie fanden heraus, dass das Risiko für Schizophrenie nur im Gehirn und in Genen besteht, die in Neuronen konzentriert sind, also in Gehirnzellen, die dafür sorgen, dass Nachrichten von der Außenwelt an das Gehirn und umgekehrt übermittelt werden, so dass Menschen sich bewegen und sprechen können. Dieser Prozess wird durch Synapsen erleichtert, die Neuronen mit anderen Zellen im Gehirn und im Körper verbinden.

Illustration des menschlichen Gehirns
Das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, lässt sich an Genen von Gehirnzellen ablesen.Bild: magicmine/Zoonar/picture alliance

Neuronen und Synapsen spielen Schlüsselrolle

Die andere Studie verfolgte einen enger begrenzten Ansatz, aber die Ergebnisse deuten ebenfalls darauf hin, dass Neuronen und Synapsen eine Schlüsselrolle für das Risiko eine Schizophrenie-Erkrankung spielen.

Sie wurde vom SCHEMA-Team durchgeführt, einer Forschungsgemeinschaft unter Leitung des Broad Institute des Massachusetts Institue of Technology (MIT) und Harvard. Die Forscher entdeckten zehn Gene mit seltenen Mutationen, die offenbar das Schizophrenierisiko einer Person erhöhen, und 22 weitere Mutationen, die ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen könnten.

"Im Allgemeinen hat jeder Mensch eine etwa einprozentige Chance, im Laufe seines Lebens an Schizophrenie zu erkranken", sagte Benjamin Neale, ein Mitautor von SCHEMA und Mitglied des PGC, in einer Pressemitteilung. "Aber wenn man eine dieser Mutationen hat, steigt die Chance auf 10, 20 oder sogar 50 Prozent."

Einige dieser Gene wiesen auf Synapsen-Probleme als mögliche Ursache für die Krankheit hin. Wissenschaftler des Broad Institute entdeckten dies erstmals in einer Studie von 2016. In dieser Arbeit wurde der Ursprung der Schizophrenie zum ersten Mal mit spezifischen Genvarianten in Verbindung gebracht. Dies erklärt auch, warum sich Schizophrenie in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter entwickelt.

Anstatt das gesamte Genom zu untersuchen, untersuchten die SCHEMA-Forscher ganz spezifisch einen kleinen Teil des Genoms, das sogenannte "Exom". Das Exom kodiert Proteine. Anhand der Exome von rund 24.000 Menschen mit Schizophrenie und rund 97.000 ohne Schizophrenie suchten sie nach Varianten, die die Fähigkeit eines Gens zur Bildung funktionierender Proteine beeinträchtigen. Zwei der zehn vom SCHEMA-Team entdeckten Genmutationen standen im Zusammenhang mit einer Funktionsstörung an der Synapse.

Aber die anderen acht Gene wurden noch nie mit einer Hirnstörung oder einer neuronenspezifischen Funktion in Verbindung gebracht, so die Forscher. Das bedeutet, dass noch viel Klärungsbedarf besteht.

Jugendlicher, der einen Joint raucht
Einige Forschungsergebnisse zeigen, dass Cannabiskonsum bei Jugendlichen ein Risikofaktor für eine Schizophrenie ist.Bild: Bildagentur-online/Hermes Images/picture alliance

Was wir noch nicht wissen

Schizophrenie tritt in der Regel bei Patienten im späten Jugendalter beziehungsweise bei Teenagern auf. In der Vergangenheit haben Forscher den Umweltaspekt der Krankheit untersucht. Dabei fanden die Forschenden heraus, dass sowohl der Ort, an dem eine Person aufwächst, als auch der Cannabiskonsum von Jugendlichen und die Ernährung während der Schwangerschaft eine Rolle bei der Entwicklung der Krankheit spielen können.

Es ist zudem wissenschaftlich belegt, dass Schizophrenie zu 60 bis 80 Prozent vererbbar ist. Ansonsten wissen wir nur wenig über die Genetik der Krankheit. Das Wissen über die Biologie der Schizophrenie, so Ripke, liege bei "nahe Null".

Das liegt an einer Reihe von Problemen, die nicht auf die Schizophrenie beschränkt seien, so Ripke. Diese Probleme gebe es auch bei vielen anderen psychischen Erkrankungen - zum Beispiel bei der bipolaren Störung oder der Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Es gibt keine Möglichkeit, die Krankheit an Tieren zu untersuchen, erläutert Ripke. Zudem könne sie nicht durch einen Bluttest oder einen Gehirnscan diagnostiziert werden.

"Wir haben nur Fragen, Antworten und Beobachtungen, und selbst die Beobachtungen reichen nicht aus, wenn wir keine gemeinsame Sprache haben. Im Grunde müssen wir wissen, ob die Menschen Halluzinationen haben, ob sie Stimmen hören", sagt Ripke.

Das schließt Tiere also aus, weil sie nicht mit uns und wir nicht mit ihnen sprechen können. Die Sprache spielt für die Diagnose und die anschließende Untersuchung der Schizophrenie eine zentrale Bedeutung. Entsprechend kann die Forschung nur am Menschen durchgeführt werden. Allerdings halten ethische Bedenken die Forschenden davon ab, Proben zu sammeln, die sie für die genetische Analyse benötigen würden, sobald sie die sprachbasierte Diagnose gestellt haben.

"Wir können eben keine Proben aus einem lebenden Organ entnehmen", sagt Ripke. "Wir können nicht einfach Gehirnzellen von Schizophrenie-Patienten entnehmen."

 Frau mit Blick auf eine Pillenflasche
Schizophrenie-Medikamente blockieren Dopaminrezeptoren, bekämpfen aber nicht die eigentliche Ursache der Störung.Bild: YAY Images/imago images

Die Sprache als Schlüssel

Nach Ansicht der Forschenden gibt es durch die umfangreichen DNA-Sequenzierungsexperimente jetzt aber eine deutlich größere Chance, Medikamente zu entwickeln, die das Problem an der Wurzel packen und nicht nur die Symptome wie Halluzinationen bekämpfen. Aber dafür müssen die Menschen freiwillig mitmachen, so Ripke.

"Die Studie wäre ohne das Vertrauen Tausender und Abertausender Patienten, die uns ihre genetischen Daten zur Verfügung gestellt haben, niemals möglich gewesen", erklärt Ripke. "Wir sind all den Menschen, die uns ihre Daten anvertraut haben, unendlich dankbar."

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen.

*Aufgrund technischer Schwierigkeiten auf Seiten von Nature sind die beiden Studien, deren Veröffentlichung für den 6. April angekündigt war, noch nicht online zugänglich. Wir haben stattdessen Mitteilungen der beteiligten Forschungsinstitutionen verlinkt.