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Russland im Jahr 2024: Konsolidierung trotz Krieg

Juri Rescheto
4. Januar 2024

Präsident Wladimir Putin sitzt weiter fest im Sattel und steht vor einer fünften Amtszeit. Die Wirtschaft Russlands ist trotz aller Sanktionen stabil.

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Russlands Präsident Wladimir Putin an einem Rednerpult vor einer goldenen Wand
Muss sich um seine Wiederwahl wohl keine Sorgen machen: Russlands Präsident Wladimir PutinBild: picture alliance/dpa/TASS

"Unsere Aufgaben wachsen wie ein Schneeball, aber wir sind Russland, wir sind ein Winterland, wir lieben Schnee, schauen Sie sich an, wie viel davon schon gefallen ist." Voller Zuversicht blickte Russlands Präsident Wladimir Putin beim Parteitag seiner Regierungspartei Einiges Russland Mitte Dezember ins kommende Jahr. Das größte innenpolitische Ereignis der nächsten zwölf Monate wird dabei die Präsidentschaftswahl Mitte März sein - auch wenn deren Ausgang schon jetzt klar sein dürfte. Putin kandidiert zum fünften Mal und er hat auch diesmal wieder keinerlei Konkurrenz, die er fürchten müsste.

Der einzige Laden im Dorf

Wie beliebt Putin im eigenen Volk ist, nach fast zwei Jahren Krieg und großen russischen Verlusten in der Ukraine, spielt dabei im Grunde keine Rolle, sagt der in Moskau lebende Politikwissenschaftler Alexander Kynew gegenüber der DW: "Wenn ihr Dorf nur einen einzigen Laden hat, werden Sie nicht auf die Idee kommen, dessen Beliebtheitswerte zu messen", so Kynew. "Die Menschen sind zwar mit sehr vielem unzufrieden. Aber das politische Feld ist bereinigt. Das Land ist riesig, und niemand hätte die Ressourcen, um das Präsidentenamt zu kämpfen." Niemand außer Putin.

Wladimir Putin stellt sich auf seiner alljährlichen großen Pressekonferenz ausgewählten Fragen im russischen Staatsfernsehen
TV-"Duell" ohne Gegenkandidat: Wladimir Putin stellt sich auf seiner alljährlichen großen Pressekonferenz ausgewählten FragenBild: Alexander Kazakov/Sputnik/REUTERS

Die wichtigste Herausforderung für den Kremlchef werde deshalb sein, eine hohe Wahlbeteiligung zu erzielen, um seiner Wiederwahl zumindest einen Anstrich von Legitimität zu geben. Dem Kreml gehe es nicht so sehr darum, Putin populärer zu machen, sondern die Menschen dazu zu bewegen, überhaupt wählen zu gehen, glaubt der Soziologe Denis Wolkow vom Moskauer Lewada-Zentrum, einem unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstitut.

"Putins Aufgabe besteht vor allem darin, die Menschen nicht zu sehr zu verärgern", erklärt Alexander Kynew. Die Mehrheit der Russen sei schon immer eher unpolitisch gewesen und habe Angst vor Veränderungen, so der Politikwissenschaftler. Außerdem sei die Gesellschaft müde von der sogenannten "militärischen Spezialoperation", wie der Ukraine-Krieg in Russland offiziell heißt. "Die Menschen wollen, dass das alles so schnell wie möglich vorbei ist."

Viele Russen sind optimistisch

Dabei herrscht in Russland wieder eine deutlich optimistischere Stimmung als zu Kriegsbeginn, urteilt Denis Wolkow. So sei die Zahl derjenigen, die meinten, ihre Lage werde schlimmer, im Vergleich zum Vorjahr um gut die Hälfte geschrumpft. Dieser Trend werde sich fortsetzen, glaubt der Soziologe, und das aus mehreren Gründen.

Zum einen habe die Regierung viel getan, um die Wirkungen der westlichen Sanktionen abzufedern und das russische Bankensystem zu stabilisieren. Russlands Wirtschaft sei bislang nicht zusammengebrochen und werde dies auch 2024 nicht tun. Davon ist die in Moskau lebende Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch überzeugt. "Die russische Wirtschaft ist robust. Die EU-Sanktionen werden nicht anders wirken als bisher. Sie wirken eigentlich überhaupt nicht, weil es für sanktionierte Waren viele andere Lieferwege außerhalb der EU gibt." Exportiert wird nun zunehmend nach China, Indien oder in den Mittleren Osten.

Viel Öl aus Russland - Sind die Sanktionen wirkungslos?

Auch im kommenden Jahr rechnet Subarewitsch mit "mehr oder weniger ordentlichen Einnahmen" aus dem Ölexport. Russland werde 2024 dazu in der Lage sein, seine Ausgaben "zur Unterstützung der militärischen Spezialoperation" in der Ukraine noch zu erhöhen, vermutet die Professorin der Moskauer Lomonossow-Universität.

Krieg? Welcher Krieg?

Zu einer insgesamt eher positiven Stimmung im Land trage laut dem Soziologen Wolkow auch die bislang weitgehend erfolglose Gegenoffensive der Ukraine bei. Dies habe den Russen die Angst vor einer militärischen Niederlage und deren Konsequenzen genommen. Auch die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine hätten den Menschen in Russland nur anfänglich Sorgen gemacht. Mittlerweile sei die Zahl derjenigen, die glaubten, Russland führe den Krieg erfolgreich, gestiegen. "Der Krieg wurde zur Routine, zu einem Hintergrund, an den man sich längst gewöhnt hat, in den aber die meisten nicht involviert sind", so Wolkow. "Ja, irgendwo wird er geführt, aber das ist weit weg." 

Ukrainischer Soldat in einem Erdloch mit einem Gewehr
Schützengraben: Der Krieg in der Ukraine ist für die meisten Russen kein Thema mehrBild: Yasuyoshi Chiba/AFP/Getty Images

Dabei habe es dem Politikwissenschaftler Alexander Kynew zufolge gleich nach Kriegsbeginn im Februar und März 2022 zumindest theoretisch eine Chance auf einen Machtwechsel gegeben, "wenn all diejenigen, die sonst Proteste organisierten, massenweise auf die Straßen gegangen wären, statt massenweise Russland zu verlassen". Gemeint sind Hunderttausende Russinnen und Russen, die entweder aus Protest gegen Putins Politik oder aus Angst vor einer Mobilisierung ins Ausland flohen.

Gigantische Unterdrückungsmaschinerie

Dieser Analyse widerspricht die im Ausland lebende Historikerin Irina Scherbakowa vehement. Scherbakowa ist Gründungsmitglied der renommierten Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2021 von Russland verboten und ein Jahr später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im Gespräch mit der DW weist sie auf die in Russland herrschende Atmosphäre der Angst hin: "Eine gigantische Unterdrückungsmaschine ist im Gang. Der lange Arm der Diktatur greift immer tiefer in das Leben der Menschen und versucht jetzt auch, die Unangepassten und die Nichteinverstandenen aus dem kulturellen Leben auszuschließen und zu diffamieren." Damit spielt die russische Exil-Oppositionelle etwa auf eine verschärfte Gesetzgebung an, die die internationale LGBTQ-Bewegung als "extremistisch" einstuft. Scherbakowa sieht in dieser Hinsicht "keine positive Perspektive" für das kommende Jahr.

Regenbogenflagge vor dem Kreml in Moskau
Regenbogenfahne: Zeichen von Toleranz und Diversity für die einen - angeblicher Extremismus in RusslandBild: DW

Was die Haltung zum Krieg in der Ukraine angehe, versteckten sich viele Menschen in Russland schlicht vor der Realität: "Sie versuchen, sich davon zu distanzieren so gut es geht, etwa indem sie bestimmte Dinge nicht laut aussprechen." Die Menschen in Russland hätten keinen Glauben mehr an Institutionen und Demokratie. "Sie glauben stattdessen an die Stabilität des Putin-Regimes und fürchten, wenn sie das Boot noch mehr zum Schaukeln bringen, wird alles nur noch schlimmer."

Dennoch versucht Irina Scherbakowa, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Man solle sich nicht dem Gefühl hingeben, "dass der Krieg noch sehr lange dauert und Putin ewig lebt". So wie es beim Fall der Berliner Mauer geschehen sei, könnten sich solche Regime manchmal innerhalb weniger Stunden in der Luft auflösen, wenn die Zeit dafür reif sei und die passenden Umstände zusammenträfen.

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Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga