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Gesellschaft

Rumänien 1989: Wir haben nicht bei Null angefangen

Medana Weident
12. Dezember 2019

Es ist 30 Jahre her, seit dem Ende des Ceauşescu-Regimes in Rumänien. Diesem Thema widmet sich die erfolgreiche junge Schriftstellerin Lavinia Branişte in ihrem neuen Roman "Sonia erhebt die Hand“.

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Autorin Lavinia Braniste
Bild: Adi Bulboacă

DW: Die einen sprechen von der "Rumänischen Revolution", die anderen etwas nüchterner von den Ereignissen im Dezember 1989. Doch wie war es wirklich damals? Was wissen junge Rumänen darüber und wie verklärt erscheint es vielen Älteren heute? In Ihrem zweiten Roman "Sonia erhebt die Hand" versucht die junge Protagonistin auf manch solcher Fragen Antworten zu finden. Sie selbst waren ja 1989 noch ein Kind. Warum ist all das so wichtig? 

Lavinia Branişte: Die jüngste Geschichte Rumäniens müsste ein Unterrichtsfach sein. Ich habe über den Kommunismus nichts in der Schule gelernt. 1990, als ich zur Schule ging, hatten wir noch die alten Schulbücher, nach denen auch meine Mutter gelernt hat. 2001 hatte sich immer noch nichts geändert. Dieselben Schulbücher, auch das für Geschichte. Ich halte es für sehr wichtig, diesen Stoff im Unterricht zu behandeln. Sicherlich ist es auch wichtig, wer diese Bücher schreibt, aus welcher Sicht die Ereignisse vom Dezember 1989 behandelt werden.

Das, was ich aus der Recherche zu diesem Buch gelernt habe, ist, dass 1989 kein klarer Schnitt zwischen vorher und nachher erfolgte, dass nichts zu Ende ging, um etwas komplett Neues zu beginnen. Ganz und gar nicht. Das sollten, meiner Meinung nach, die Jugendlichen heute verstehen, wie auch wir alle: woher wir kommen und warum es in Rumänien so ist, wie es ist. Im Dezember 1989 haben wir nicht bei Null angefangen, „rein und ohne Schuld", wie es auch in meinem Roman steht. Die politisch Verantwortlichen sind fast dieselben oder es sind deren Nachfolger. Sie hinterlassen ihr Erbe weiter… Es ist also sehr wichtig zu wissen, woher wir kommen.

Buchcover von „Sonia erhebt die Hand“ (Polirom-Verlag)
„Sonia erhebt die Hand“ ist Lavinia Braniştes zweiter RomanBild: Polirom

"Wann wirst du denn endlich ein Sozialgewissen entwickeln?" Diese Frage wird der jungen Sonia gestellt. Sind die Jugendlichen, die Rumänen allgemein zu wenig gesellschaftlich engagiert?

Wir waren lange Zeit lethargisch, aber ich habe das Gefühl, dass sich nun etwas ändert. Wir fangen an, uns zu engagieren, zu protestieren, uns zu beteiligen und zu erkennen, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind. Wir leben in einer offenen Welt, können überallhin reisen und sehen, wie andere ihre Probleme gelöst haben. Diese Erfahrungen ermutigen uns, "die Hand zu erheben", wenn auch nur zaghaft. Ich denke, auch bei uns tut sich jetzt was. 

Die Familie - das Mutter-Tochter-Verhältnis, der abwesende Vater oder die Beziehung eines jungen Paares - spielen auch in Ihrem zweiten Roman eine große Rolle. Auch in Bezug zu der kommunistischen Vergangenheit. In dem Zusammenhang taucht die Frage auf: Urteilen wir nicht zu streng über unsere Eltern und werfen ihnen vor, nichts getan, sich nicht widersetzt zu haben?

Das ist eine Frage, auf die ich keine Antwort habe. Auch bevor ich mit der Arbeit an diesem Buch angefangen habe, hat es mich beschäftigt. Was hätte ich damals gemacht? Ich habe zum Beispiel gelesen, wie sogar Teenager, Schulkinder von der Geheimpolizei rekrutiert wurden. Ich habe versucht, mich in deren Lage zu versetzen. Oder als Schriftstellerin, verfolgt zu werden. Wenn meine Familie bedroht gewesen wäre. Wäre ich mutig gewesen? Rückblickend sehen die Dinge ja immer anders aus. Ich weiß wirklich nicht, wie mutig ich gewesen wäre. Andererseits, wenn viele so gedacht haben, ist es kein Wunder, dass es so weit gekommen ist. Es ist recht schwer zu urteilen.

Kürzlich ergab eine Ipsos-Umfrage zum Thema 30 Jahre nach der Wende in Europa ein erschreckendes Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Rumänen (52%) sind der Meinung, dass es ihnen im Kommunismus besser ging. "Es war nicht besser, aber es ging uns besser", ist ein Satz aus Ihrem Roman.

Die Aussage stammt von einem Professor an der Uni, einer meiner Lieblingsprofessoren. Es wird ihm heute vermutlich finanziell schlecht gehen. Das Gedächtnis hat schon seine Tricks: Wenn wir all das Böse, das uns widerfährt, nicht vergessen, würden wir durchdrehen. Nur durch Vergessen können wir letztendlich überleben. Ein Grund für diese Nostalgie ist vielleicht auch der schmerzliche Verlust der damaligen Jugend… Befremdend ist, wie junge Rumänen, die den Kommunismus nicht erlebt haben, vom linken Gedankengut erfasst sind. Und das sogar extrem. Aber so eine Nostalgie erleben wir nicht nur in Rumänien. Ich erinnere mich, in Spanien in einem Bus gehört zu haben, wie manche (allerdings ältere) Menschen Franco vermissen.

Bei einer Veranstaltung zum Thema Kommunismus erzählt in Ihrem Buch eine Frau aus dem Publikum, sie sei "verwirrt". Mit 37 hatte sie im kommunistischen Rumänien eine Wohnung und konnte sich jedes Jahr Urlaub leisten. Ihr Sohn heute, im selben Alter, kann es nicht…

Deutschland | Freie Werkstatt Theater Köln | Null Komma Irgendwas
Die Inszenierung "Null Komma Irgendwas" gibt es auch als Silvester-Starter-Vorstellung am 31.12.2019 im Freien Werkstatt Theater KölnBild: DW/M. Weident

Ich glaube, viele in Rumänien sind diesbezüglich ziemlich verwirrt.

Ihr erster Roman, der unter dem Titel "Null Komma Irgendwas" ins Deutsche übersetzt wurde, kam kürzlich im Freien Werkstatt Theater Köln auf die Bühne. Die Premiere war ein großer Erfolg.

Es hat mich sehr gefreut, aber auch überrascht. Ich dachte nicht, dass die Themen übertragbar sind. In Köln wurde hauptsächlich die Berufswelt der jungen Protagonistin beleuchtet. Es ist sicherlich schön, dass mein erster Roman auch in Deutschland und inzwischen in Polen ein Publikum gefunden hat. Auch der neue Roman soll ins Deutsche übersetzt werden.  

Arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch?

Zurzeit bin ich Artist in Residence im schweizerischen Zug mit Hilfe der Stiftung Landis & Gyr und schreibe an einem Kinderbuch aus der Serie mit dem Schweinchen Rostogol. Über einen neuen Roman denke ich auch nach. Nur muss sich alles noch setzen und reifen. Es ist die Geschichte zweier Schwestern auf Pilgerreise. 

Die rumänische Schriftstellerin und Literaturübersetzerin Lavinia Braniște lebt und arbeitet in Bukarest. Ihr erster Roman mit dem rumänischen Originaltitel "Interior zero" wurde 2016 in Rumänien zum besten Roman des Jahres gewählt. 2018 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Null Komma Irgendwas" im mikrotext-Verlag, Berlin. Ihr zweiter Roman "Sonia ridică mână“ ("Sonia erhebt die Hand“), wurde November 2019 im Polirom-Verlag, Iaşi, veröffentlicht.