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PolitikNahost

Reformer im Libanon vor schwieriger Aufgabe

19. Mai 2022

Im Libanon haben die Reformkräfte einen Achtungserfolg errungen: Sie schicken 13 Abgeordnete ins Parlament, während ein Hisbollah-Verbündeter Verluste einfuhr. Eine Chance, das Land aus der Krise zu führen?

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Libanon I Wahlen
Wahlhelfer kurz vor ihrem Einsatz in der Ortschaft Hula, Südlibanon, Mai 2022Bild: Aziz Taher/REUTERS

Für sie ist es ein Triumph: Vertreter der oppositionellen Protestbewegung haben bei der Parlamentswahl im Libanon 13 Sitze gewonnen. Diese rangen sie insbesondere dem von der Schiiten-Miliz Hisbollah geführten Block ab, der nur noch 62 Abgeordnete ins Parlament schickt. Bei den Wahlen im Jahr 2018 hatte er noch 71 der insgesamt 128 Sitze errungen.

Allerdings konnte die eng mit dem Iran verbundene Hisbollah selbst ihre Plätze halten. Die Verluste gingen auf Kosten ihrer Partner, insbesondere der christlichen, von Präsident Michel Aoun geführten Freien Patriotischen Bewegung.

In der Summe bedeutet dies aber, dass der Block um die Hisbollah seine Parlamentsmehrheit verloren hat. Er sieht sich nun verstärkt dem Druck anderer großer Parteien gegenüber, so etwa der christlichen Forces Libanaises (FL) unter Samir Geagea. Unmittelbar nach der Wahl versuchten sich die FL bereits mit teils schrillen Parolen als wichtigste Reformkraft zu präsentieren. Dabei sind sie bereits seit langem Teil des libanesischen Machtkampfes - im Parlament und ehedem auch als Bürgerkriegsmiliz - und gelten vielen Libanesen als Teil des Establishments. Vor allem gehören sie nicht zum Lager der jüngeren Reformer.

Libanon | Wahlen
Libanesische Militärpatrouille vor Plakaten der Hisbollah, Südlibanon, Mai 2022Bild: Mohammed Zaatari/AP Photo/picture alliance

Einsatz gegen "korrupte Projekte"

Die jungen Reformkräfte hatten sich im Herbst 2019 vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden nationalen Krise gebildet, gekennzeichnet durch politische Stagnation, Korruption und einen massiven wirtschaftlichen Niedergang. Dieser spiegelt sich etwa im Sturz des libanesischen Pfundes, das rund 90 Prozent seines Wertes verlor. Die Krise verschärfte sich noch einmal durch die Explosion eines Getreidespeichers im Hafen von Beirut im August 2020 mit über 200 Toten - in den Augen vieler Libanesen ein Symbol für die Unfähigkeit der etablierten politischen Klasse. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben inzwischen drei Viertel der libanesischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Gegen diese Missstände wollen die 13 ins Parlament gewählten Reformkräfte nun angehen. So hatten sie es vor der Wahl versprochen.

"Schauen Sie, was sie uns angetan haben: kein Strom, kein Wasser, sie haben uns unser Geld weggenommen, sie haben uns unter dem Müll begraben", sagt die Chemikerin Najat Saliba, frisch gewählte Abgeordnete der neu gegründeten Reformer-Partei "Taqqadum" ("Fortschritt"), im Gespräch mit der DW. Die  etablierte Politiker sind in ihren Augen Versager: "Wenn sie 60 Jahre lang nichts erreicht haben, werden sie auch jetzt nichts erreichen!" Zugleich verspricht sie:  "Wir Reformer werden im Parlament als Opposition auftreten - und wir werden gegen alle korrupten Projekte der Vertreter der alten Parteien ein Veto einlegen."

Linbanon Alman | Parlamentskandidatin Najat Saliba
Gegen das politische Establishment: Najat Saliba von "Taqqadum"Bild: Marwan Naamani/dpa/picture alliance

Wie einig ist die Opposition?

Allerdings sei offen, inwieweit die 13 ins Parlament gewählten Reformer tatsächlich eine kohärente Oppositionskraft formen und mit einer Stimme sprechen könnten, sagt Heiko Wimmen, Projektdirektor der International Crisis Group für den Libanon, Syrien und den Irak mit Sitz in Beirut. "Denn in vielem haben sie durchaus unterschiedliche Vorstellungen: Wie etwa sieht es hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit der Hisbollah aus? Für einige im Reformlager ist das unter Umständen denkbar, andere hätten damit aber erhebliche Probleme."

Zudem stünden die Reformer vor einem weiteren Problem: Trotz allem Unmut haben die meisten libanesischen Wähler dennoch Vertreter der etablierten Parteien gewählt - und somit faktisch, wenn vielleicht auch unabsichtlich, insgesamt für den Erhalt des Status Quo gestimmt. Das sei nicht erstaunlich, so der Politikwissenschaftler. "Man muss bedenken, dass das Land völlig bankrott ist." Viele Menschen, auch die im Öffentlichen Dienst, bezögen ein sehr kleines Einkommen, das kaum zum Überleben reiche.

Viele Menschen seien vor allem damit beschäftigt, ihr wirtschaftliches Überleben zu sichern. Also suchten sie nach politischen Repräsentanten, denen sie zutrauen, im bestehenden Klientelsystem zumindest einen Teil ihrer Interessen zu sichern. "Und das trauen sie natürlich am ehesten weiterhin denen zu, die an der Macht sind. Denn in dieser Position können sie für ihre Wähler noch am meisten ausrichten. Die Reaktion und die Leistung der etablierten Politiker kennt man - die der neuen hingegen noch nicht."

Libanon | Proteste in Beirut
Protestkundgebung gegen die Politik der libanesischen Banken, Beirut, September 2021Bild: Hussein Malla/AP Photo/picture alliance

Mobilisierung durch Misstrauen

Ungeachtet solcher Schwierigkeiten geben sich die Reformer entschlossen: "Wir brauchen einen finanziellen und wirtschaftlichen Sanierungsplan, um dieses Land zu retten, unsere Wirtschaftskrise ist sehr tiefgehend", so Mark Daou, auch er ein neu gewählter Abgeordneter von "Taqqadum", gegenüber der DW. Auch gelte es, das Problem der vielen im Libanon präsenten Waffen in den Griff zu bekommen, sagt er. Insbesondere auf die Hisbollah-Miliz trifft das zu, der nachgesagt wird, militärisch deutlich schlagkräftiger zu sein als die reguläre libanesische Armee. 

Doch auch solches Engagement setzt voraus, was im Libanon so sehr fehlt: das Vertrauen der Libanesen in ihren Staat. Seit langem setzten die etablierten Parteien in dem konfessionell gespalteten Land darum auf eine aus ihrer Sicht bewährte Strategie, meint Heiko Wimmen - nämlich, Angst vor dem jeweils anderen zu schüren. Einige konfessionelle Parteien machten ihren Anhängern kontinuierlich Angst vor den Machtansprüchen der jeweils anderen, etwa mit Behauptungen wie, dass die Schiiten das Land in eine iranische Kolonie verwandeln wollten, so der Experte der International Crisis Group. "Den Schiiten wiederum wird eingeredet, die Sunniten und die Christen wollten mit Saudi-Arabien und den USA paktieren, um das Land dann Israel auszuliefern. Diese Rhetorik wird immer wieder mobilisiert - und sie funktioniert", meint der deutsche Experte: "Dagegen anzugehen, das ist für die Reformkräfte nun die zentrale, aber eine auch nur sehr schwierig zu meisternde Aufgabe."

Redaktionelle Mitarbeit: Razan Salman, Beirut

 

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika