Rebellion gegen das '"System Putin"
3. März 2012Was sich viele Menschen in Russland noch vor kurzem nicht vorstellen konnten, ist heute Realität. Seit rund drei Monaten gehen Zehntausende in Moskau auf die Straße, um für faire Wahlen und mehr Demokratie zu demonstrieren. Auch in anderen Städten gibt es Proteste. Die russische Zivilgesellschaft, die seit mehr als zehn Jahren zu schlafen schien, sei wieder aufgewacht, sagen Experten und Politiker.
Die Geister, die Putin rief
Der Mann, der sie geweckt hat, heißt Wladimir Putin. Der russische Regierungschef, der zwischen 2000 und 2008 bereits Präsident war, tritt bei der Wahl an diesem Sonntag (04.03.) wieder als Kandidat an. Die Art und Weise, wie er seine Rückkehr in den Kreml angekündigt hat, habe viele Russen empört, meint Natalia Taubina, Leiterin der Nichtregierungsorganisation "Gesellschaftliches Urteil" und Mitglied im Zivilgesellschaftsforum EU-Russland. Putin und der jetzige Präsident Dmitri Medwedew hatten im September 2011 erstmals zugegeben, längst einen Jobtausch vereinbart zu haben: Putin soll wieder Präsident und Medwedew Premier werden.
"Der letzte Tropfen, der dann das Fass zum Überlaufen brachte, war die beispiellose Fälschung der Parlamentswahl im Dezember. Einfache Bürger, die sich als freiwillige Wahlbeobachter engagierten, sahen diese Fälschungen mit eigenen Augen", so Taubina. Dies sei entscheidend für die heutige Protestbewegung gewesen: "Die Gesellschaft fordert in erster Linie Respekt." Konkret heißt das: freie und faire Wahlen, einfachere Zulassungsregeln für Parteien und die Freilassung derer, die als politische Häftlinge gelten. Liberale Russen kritisieren die undemokratische Entwicklung des Landes und sprechen vom "System Putin", das sie friedlich verändern wollen.
Die Mittelschicht zeigt Flagge
Der Protest in Russland wird in erster Linie von der neuen Mittelschicht getragen. "In Russland gibt es heute einen Massenprotest der Mittelschicht. Es sind wohlhabende Menschen, die verlangen, dass sie und ihre Verfassungsrechte, wie etwa das Recht auf freie und faire Wahlen, respektiert werden", betont Michail Kassjanow, ehemaliger Ministerpräsident und einer der Führer der Opposition.
"Deutlich ist, dass es zumindest in den großen Städten unter den jüngeren, hoch qualifizierten, gebildeten Menschen ein Verständnis für eine neue politische Situation gibt", sagt Petra Stykow, Osteuropa-Expertin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Der inoffizielle Gesellschaftsvertrag, wonach die russische Bevölkerung politische Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand demokratischen Freiheiten vorzieht, werde von einem Teil der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert. Ob das die Geburt einer neuen Zivilgesellschaft sei, könne man noch nicht sagen, meint die Expertin. Denn in der Provinz sei die Protestbewegung nicht so stark.
Ein neues Gemeinschafsgefühl
Drei große und mehrere kleinere Demonstrationen gab es in Moskau seit Anfang Dezember. Weder klirrende Kälte, noch Angst vor möglichen Repressalien hielten die Menschen ab, auf die Straße zu gehen. Eines der Symbole der Proteste ist die Farbe Weiß. Sie soll vor allem für Reinheit stehen. Nikolaj Petrow, Politik-Experte von der Carnegie-Stiftung in Moskau, zieht Bilanz: "Es gab zwei wichtige Entwicklungen: Zum einen hat man Einheit und Erfolg demonstriert, zum anderen hat man gezeigt, dass es gelingt, verschiedene ideologische Gruppen zusammen zu bringen."
Ohne das Internet wären die Proteste in diesem Ausmaß kaum möglich gewesen, glaubt Petra Stykow: "Man kann damit das alte Problem der Demonstranten lösen: Wo und wann finden welche Protestaktionen statt?" Die Proteste in Moskau wurden von Anfang an über Facebook und andere soziale Netzwerke organisiert. "Die neuen Kommunikationsmittel zeigen den Menschen, dass sie nicht allein sind", so Stykow.
Wen soll man wählen?
Mit der Präsidentenwahl erreicht die politische Spannung in Russland einen neuen Höhepunkt. Offenbar muss sich Putin keine Sorgen machen, schon im ersten Wahlgang zu gewinnen. Denn mehr als die Hälfte der Russen wollen laut Umfragen für den Regierungschef stimmen.
Die Opposition wirft Putin vor, bereits im Vorfeld der Wahl potenziell gefährliche Gegner politisch ausgeschaltet zu haben. Wie soll man darauf reagieren? Soll man wählen gehen? Wenn ja, wen? Auf diese Fragen haben die Anführer der Protestbewegung keine klare Antwort. Eine Wahlempfehlung gibt es nicht. "Die Oppositionsbewegung ist noch nicht reif für solidarische Aktionen", schrieb dazu der Schriftsteller Boris Akunin in seinem Blog.
Geeinigt haben sich die Protestler jedoch darauf, die Präsidentenwahl besonders streng zu beobachten und mögliche Fälschungen zu dokumentieren. Sollten die Verstöße gravierend sein, könnte die "Liga der Wähler", eine neue Vereinigung von Aktivisten der Zivilgesellschaft, Putins Legitimität in Frage stellen, sagte Akunin der DW.
Ein solches Szenario möchte Putin offenbar vermeiden. Anfangs lachte er über die Demonstranten. Doch inzwischen sendet er Signale der Annäherung und lobt sogar die russische Zivilgesellschaft. Reifer, aktiver und verantwortungsvoller sei sie geworden, schrieb der Regierungschef und Präsidentschaftskandidat in einem programmatischen Artikel in der Moskauer Zeitung Kommersant. Der Staat müsse seine Demokratiemechanismen so erneuern, damit die Mittelschicht daran besser teilhaben könne.
Autor: Roman Goncharenko
Redaktion: Markian Ostaptschuk