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Prigoschins Aufstand: Wie geht es weiter für Sergej Schoigu?

Roman Goncharenko
27. Juni 2023

Nach dem Aufstand der "Wagner-Gruppe" bleibt das Schicksal des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu ungewiss. Was bedeutet das für den Krieg in der Ukraine?

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Russischer Verteidigungsminister Sergej Schoigue
Der russische Verteidigungsminister Sergej SchoiguBild: Russian Defence Ministry/AP/picture alliance

Schoigu ist zurück im Fernsehen. Während des gegen ihn persönlich gerichteten bewaffneten Aufstands der Privatarmee "Wagner-Gruppe" wie auch am Tag danach trat der russische Verteidigungsminister nicht in der Öffentlichkeit auf. Erst am Montag zeigten russische Medien Aufnahmen von ihm - morgens angeblich im Kriegsgebiet in der Ukraine und abends bei einem Treffen der Sicherheitsbehörden mit Präsident Wladimir Putin. Eine Stellungnahme von Sergej Schoigu zu dem Aufstand gibt es bis heute nicht.

Experte: Vorwürfe richten sich auch gegen Putin

"Er folgt seinem Instinkt", sagt Professor Brian Taylor, Russland-Experte an der Syracuse University in New York. "Als er Minister für Katastrophenschutz war, tauchte er gerne an Unglücksorten auf. Er betonte, er habe hier das Sagen und bekam einen Vertrauensvorschuss. Wenn es nun um eine Katastrophe geht, für die er selbst verantwortlich ist, dann will er nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden. Aber hinter den Kulissen arbeitet er mit Putin und anderen zusammen, um seine Position zu festigen", so Taylor im DW-Gespräch.

Jewgenij Prigoschin in Rostow am Don am 24. Juni 2023
Jewgenij Prigoschin in Rostow am Don (24. Juni 2023)Bild: Press service of "Concord"/REUTERS

Der Konflikt zwischen Jewgeni Prigoschin, Chef und Gründer der "Wagner-Gruppe", und der Führung des Verteidigungsministeriums baute sich über Monate auf. Prigoschin machte zunächst Schoigu und Generalstabschef Walerij Gerassimow für den Mangel an Munition bei den Kämpfen um Bachmut verantwortlich. Der Pressedienst des Verteidigungsministeriums wies dies zurück und Schoigu ließ sich auf keinen Streit ein.

Doch in immer schärferer Form kritisierte Prigoschin nicht nur wie der Kampf geführt wird und zu welchem Preis, sondern auch, wie der Kreml den Krieg rechtfertigt. Taylor meint, dass die Anschuldigungen gegen Schoigu und Gerassimow "in gewisser Weise berechtigt sind und der Krieg für Russland sehr schlecht läuft". Doch viele von Prigoschins Vorwürfen würden ausdrücklich "Wladimir Putin betreffen", der die Ukraine unter erfundenen Vorwänden überfallen habe.

Warum Putin Schoigu nicht gleich entlassen kann

Der russische Präsident muss sich entscheiden, ob er Schoigu entlässt oder im Amt behält. Wissenschaftler Taylor stellt fest, dass sich vieles von dem, was der Verteidigungsminister seinem Vorgesetzten über die neue Armee erzählte, "als unwahr erwies und es somit logisch wäre, wenn Schoigu gehen müsste". Doch diese Unwahrheiten seien schon vor einem Jahr offensichtlich gewesen, unmittelbar nach der Invasion der Ukraine. Der Experte erinnert daran, dass Schoigu ein ziviler Verteidigungsminister ist. Für Misserfolge auf verschiedenen Ebenen seien Militärs verantwortlich. Für strategische Fehleinschätzungen und nicht erreichte Ziele, wie einen Machtwechsel in der Ukraine, muss jedoch der Präsident geradestehen.

Gräber von "Wagner"-Kämpfern in der Nähe von Krasnodar
Gräber von "Wagner"-Kämpfern in der Nähe von KrasnodarBild: REUTERS

Putin kann Schoigu aber nicht sofort abberufen, da dies als Zeichen der Schwäche gedeutet würde. Damit würde er Prigoschin nachgeben, den er des Verrats beschuldigt habe, erläutert Taylor. Auch Fabian Burkhardt, Russland-Experte der Universität Regensburg, meint, es wäre ein "eindeutiges Signal der Schwäche", wenn Putin Schoigu gleich nach Prigoschins Aufstand vor die Tür setzen würde. "Selbst wenn inzwischen klar ist, dass die Unbeliebtheit von Schoigu auch in der Armee extrem groß ist, könnte es trotzdem gute Argumente geben, abzuwarten und zu einem späteren Zeitpunkt die Entlassung auszusprechen", so Burkhardt gegenüber der DW.

Von Putin ist bekannt, dass er keine Leute feuert, die er für seine eigenen hält. Zumal Schoigu ein Sonderfall ist, wie seine Biografie zeigt.

Mehr als ein Minister ...

Der 68-jährige Schoigu stammt aus wohlhabenden Verhältnissen der sowjetischen Nomenklatura. Sein Vater war Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in der heutigen russischen Teilrepublik Tuwa. Nach einer Ausbildung zum Bauingenieur machte Schoigu schnell Karriere. Bereits als junger Mann leitete er große Bauprojekte. In den letzten Jahren der Sowjetunion zog er nach Moskau, wo er den staatlichen Rettungsdienst gründete und leitete. Als daraus das Ministerium für Katastrophenschutz wurde, stand Schoigu fast 20 Jahre lang an der Spitze. In den späten 1990er Jahren galt er als der beliebteste russische Minister und führte bei den Wahlen zur Staatsduma die damals neue Kreml-Partei "Einheit" an - den Vorläufer der heutigen Partei "Einiges Russland".

Im Jahr 2012, unmittelbar nachdem Putin vom Posten des Premierministers wieder ins Präsidentenamt wechselte, wurde Schoigu zunächst Gouverneur der Region Moskau. Nur wenige Monate später wurde er zum Verteidigungsminister ernannt und begann mit Reformen. Schon bald kehrte die russische Armee unter anderem zur sowjetischen Praxis unerwarteter Überprüfungen der Kampfbereitschaft zurück. Auch bei den Wahlen 2021 stand Schoigu auf Platz eins der Liste seiner Partei.

... aber wohl kaum Putins Nachfolger

Im Frühjahr und Herbst 2021, kurz bevor Russland jeweils Truppen an die Grenzen zur Ukraine beorderte, zogen sich der Präsident und der Verteidigungsminister in die Taiga zurück. Fotos aus dieser Zeit unterstreichen das besondere Verhältnis von Putin und Schoigu, der schon als möglicher Nachfolger Putins gehandelt wurde.

Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Präsident Wladimir Putin in Tuwa im Jahr 2021
Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Präsident Wladimir Putin in Tuwa (2021)Bild: Alexei Druzhinin/Kremlin/ZUMA Wire/imago images

Für Brian Taylor ist das jedoch unwahrscheinlich. Er betont, dass "die gesamte Logik von Putins hochgradig personalisiertem System keine Alternative, keinen Nachfolger, vorsieht". Er sieht dafür zwei Gründe. Erstens sei Schoigu fast so alt wie Putin und ein neuer Präsident müsse aus der jüngeren Generation kommen. Zweitens sei "Schoigus Potenzial, russischer Präsident zu werden, auch dadurch begrenzt, dass er kein ethnischer Russe ist", so der Experte. In diesem Sinne sei Schoigu "ein sehr sicherer Verteidigungsminister und ein Vertrauter Putins, der angesehen und beliebt ist".

Ein Detail aus Schoigus Biografie gibt seinem Konflikt mit Jewgenij Prigoschin eine emotionale Note. Anfang der 1980er Jahre leitete Schoigu einen Baukonzern in Sibirien, wo nach seinen Angaben mehr als 10.000 Häftlinge unter seinem Kommando standen. Und 40 Jahre später begann die "Wagner-Gruppe", der heute viele ehemalige Häftlinge angehören, darunter auch Prigoschin selbst, einen bewaffneten Aufstand, um Schoigu aus dem Amt zu jagen.

Wie wird sich die Situation um Schoigu auf den Ukraine-Krieg auswirken?

Putin stehe vor einer schwierigen Entscheidung, meint Taylor. Schoigu abzusetzen, wäre ein Zeichen von Schwäche. Ihn im Amt zu halten, könnte die Unzufriedenheit mit der Führung des Verteidigungsministeriums in der Armee weiter steigern. Den Russland-Experten Taylor würde es jedenfalls nicht überraschen, wenn Putin seinen Verteidigungsminister in ein paar Wochen ablöst - und für Schoigu ein anderes ehrenvolles Amt findet.

"Die Ukraine kann jedenfalls von den Folgen des Aufstands profitieren", glaubt der Experte. Die Reaktion der russischen Armee auf die ukrainische Gegenoffensive könnte weniger organisiert und die Kampfmoral geschwächt sein. Aber die Kämpfe, so Taylor, seien auch während des Aufstands weitergegangen, daher sei mit einem Zusammenbruch der Front auf russischer Seite nicht zu rechnen.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk