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Pressestimmen von Samstag, 27. April 2002

zusammengestellt von Roswitha Schober26. April 2002

Amoklauf im Erfurter Gymnasium

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Die Kommentare der deutschen Tageszeitungen widmen sich heute überwiegend der Bluttat in dem Erfurter Gymnasium: Ein 19-jähriger ehemaliger Schüler hat 14 Lehrer und Lehrerinnen, zwei Schülerinnen und einen Polizisten erschossen und sich selbst getötet. Sein Motiv ist noch unklar. Er war jüngst von der Schule gewiesen worden.

DIE WELT erinnert an ähnliche Geschehnisse und schlägt den Bogen zu vergleichbaren Ereignissen in den USA:

"Es ist noch nicht lange her, da wurden wir durch tödliche Schuldramen wie gestern in Erfurt allenfalls aus dem fernen Amerika geschockt. Doch die Schule als sicherer Hort unserer Kinder ist auch in Deutschland längst nur noch Legende. Kleinkriminalität an Großstadtschulen gehört schon fast zum Alltag, im Februar wurde in Bayern ein Schuldirektor erschossen, im November 1999 in Meißen eine Lehrerin erstochen. Natürlich gibt es keine einfachen Erklärungen. Aber dass Bilder über vergleichbare Dramen in den USA und endlos brutale Szenen in Filmen und auf Videos auf labile Charaktere abfärben, ist schwerlich zu leugnen. Ebenso wenig, dass unsere Gesellschaft mit Gewalt und den Tätern, die sie ausüben, noch immer viel zu nachsichtig umgeht. Der Widerstand gegen Gewalt muss entschlossener und früher beginnen."

Auch die WESTDEUTSCHE ZEITUNG aus Düsseldorf richtet den Blick zunächst auf vergleichbare Taten:

"Es ist ein trauriger, unrühmlicher Rekord, den ein frustrierter
19-Jähriger dort wahr gemacht hat. Bislang war man geneigt, bei solchen Amokläufen auf 'amerikanische Verhältnisse' zu verweisen - das hört sich so nach sicherer Entfernung an. Doch die 18 Toten von Erfurt überflügeln jede vergleichbare Opfer-Zahl aus den USA; nur in Schottland gab es 1996 in einer Schule die gleiche Anzahl von Toten. Die amerikanischen Verhältnisse sind längst hier bei uns, und sie legen die Defizite unserer Gesellschaft schonungslos offen. Wir müssen unsere Kinder weniger gewaltbereit machen. Wir dürfen ihre Erziehung nicht weitgehend irgendwelchen ungeeigneten TV-Filmchen überlassen. Und wir müssen ihnen Perspektiven aufzeigen, in der Familie und im Beruf. Das können die Eltern nicht allein leisten, nicht die Schule und nicht die Politik. Das können nur alle zusammen."

Die FRANKFURTER RUNDSCHAU stellt erste Fragen nach den Ursachen:

"Ein Amokläufer kann überall zuschlagen. Es ist diesmal an einer Schule passiert, an einem ehrwürdigen Gymnasium. Hätte ein Tatort Hauptschule in einem Brennpunkt-Viertel uns eher beruhigt, weil die Antworten schneller, einfacher auf der Hand gelegen hätten? Fälle wie der des Amokläufers von Freising, der an seiner ehemaligen Schule den Direktor erschoss, auch die fast schon routiniert zur Kenntnis genommenen Nachrichten von Schul-Attentaten in den USA - das sollte uns stärker alarmieren. Die Fülle von Gewalt auf Schulhöfen und in Klassen hat, so sagen Forscher, gegenüber früher gar nicht so sehr zugenommen. Neu ist das Ausmaß an eruptiver Gewaltbereitschaft, das Blindsein dafür, dass das Opfer leidet. Hier sind offensichtlich Tabus gefallen und Risiken der Nachahmung groß. Das mag mit der Omnipräsenz von Gewalt in den Medien, mit eigenem kindlichem Erleben von Aggressivität im Elternhaus zu tun haben. Höchste Zeit für die Suche nach Antworten."

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG sieht in dem einfachen Zugang zu Waffen das Hauptproblem:

"Egal, wie gut die Sicherheitsvorkehrungen sind - sie können nicht grundsätzlich verhindern. Was sich aber ändern ließe, ist der leichte Zugang zu Waffen. Die Erfahrungen aus den USA haben gezeigt, dass sich die meisten jugendlichen Amokschützen Pistolen und Gewehre aus dem Arsenal ihrer Familien oder ihrer Freunde besorgten. Und die vergleichsweise wenigen Fälle, die es bisher in Deutschland gab, entsprachen exakt demselben Muster. In den USA freilich kann man sich eine Waffe so leicht legal kaufen wie eine Schachtel Aspirin; in Deutschland dagegen ist man seit langem stolz auf ein Waffenrecht, das angeblich eines der strengsten der Welt ist. Diese Behauptung aber entlarvt sich immer mehr als Mythos. 7,2 Millionen legale Waffen gibt es in der Bundesrepublik, und davon gehören nur 15.000 Privatpersonen, die eine Waffe zum Selbstschutz tragen dürfen, also wirklich einen ernsthaften Grund dafür haben."

Der EXPRESS aus Köln wendet sich den Reaktionen während und nach dem Blutbad zu:

"Unser Entsetzen wuchs mit der Zahl der Toten. Die Zahl unerbetener Wortmeldungen zum Amoklauf von Erfurt wuchs mit jeder Minute. Da wurde in die Seele des noch nicht identifizierten Täters geguckt, ein verschärftes Waffenrecht gefordert; Schlagworte wie Gewalt an Schulen, allein gelassene Jugend, zunehmende Verrohung - Geschwätz ohne Sinn. Am 3. 11. 1999 stand im EXPRESS: Der Amoklauf von Bad Reichenhall (5 Tote) kann schon morgen von einem noch grausigeren Blutbad überholt werden. Verhindern wird es niemand können. Nur eins können wir tun: Dankbar sein für jeden Tag, an dem wir heil davonkommen. Dem ist nichts hinzuzufügen.