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"Früher oder später muss man Russland verlassen"

Juri Rescheto
3. Mai 2023

Viele unabhängige Medienschaffende haben Russland nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine verlassen und arbeiten nun im Exil. Einige wenige bleiben trotz Sicherheitsbedenken im Land. Doch wie lange noch?

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Eine Frau wird von zwei Polizisten flankiert und abgeführt. In der Hand hält sie ein großes, handgeschriebenes Plakat, auf dem auf russisch steht "Wir werden nicht aufhören, Journalisten zu sein".
"Wir werden nicht aufhören, Journalisten zu sein" steht auf dem Schild dieser festgenommenen Reporterin in MoskauBild: Natalia Kolesnikova/AFP/Getty Images

"Erneut zehn Sibirer bei der 'Spezialoperation' in der Ukraine ums Leben gekommen"; "Foltervorwürfe gegen Gefangene in Irkutsk beschäftigen die Gerichte"; "Die US-Connections des Gouverneurssohnes von Krasnojarsk": Schlagzeilen, für die man in Russland hinter Gittern landen kann. Trotzdem sprechen die Macher von Taiga.info diese Themen an und riskieren dabei ihre Sicherheit. Warum? Weil sie wissen, dass man sie braucht.

"Natürlich hat jeder von uns Angst," gesteht Herausgeber Viktor Tschistjakow im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Aber entweder bist du in dieser Angst gefangen oder du überwindest sie." Tschistjakow überwindet seine Angst täglich. Und freut sich, dass sein Taiga.info unter den Top-20 der meistzitierten Medien in Russland ist. Mit nur zwei festen Redakteuren zurzeit. Vor ein paar Monaten waren es noch zwölf.

"Alle, die weggehen konnten, sind weggegangen. In Russland ist nur eine Handvoll echter Journalisten geblieben," stellt der 50-Jährige resigniert fest. "Wir haben beschlossen, nach 18 Jahren weiterzumachen. Denn wir haben hier unsere Geschichte."

Mission statt Geschäft

Die Geschichte von Taiga.info hätte allerdings vergangenes Jahr enden können, als die zentrale Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor das Internetportal sperrte. Seitdem ist das Medium nur noch verschlüsselt über sogenannte VPN-Tunnel zu erreichen. Die kritisch denkenden Leser schreckt das aber nicht ab, freut sich Tschistjakow. Im Gegenteil: "Wir erhalten jetzt mehr Spenden von unseren Lesern als von Firmen wie früher." Insgesamt aber seien die Einnahmen eingebrochen und man könne nicht mehr von einem Geschäft sprechen, klagt der Redakteur. Vielmehr sei seine Arbeit heute eine Mission.

Seitenansicht auf den Eingang des Roskomnadzor-Gebäudes in Moskau. Zwei Frauen öffnen gerade die Tür, im Bildvordergrund ist an der Hauswand das Schild der Behörde zu sehen.
Die staatliche russische Zensurbehörde RoskomnadzorBild: Ramil Sitdikov/Sputnik/dpa/picture alliance

Wenn auch mit Einschränkungen. "Wir sind gezwungen, gewisse Rote Linien nicht zu überschreiten. Wir versuchen innerhalb des Horizonts zu bleiben." So nennt Tschistjakow den gesetzlichen Rahmen, in dem sich die Medienmacher in Russland heute bewegen. Russlands Krieg gegen die Ukraine nennt er deswegen vorsichtshalber "Spezialoperation" - wie von den Behörden angeordnet - oder umschreibend "die bekannten Ereignisse". Taiga.info berichtet übrigens nicht direkt über den Krieg, sondern über seine Folgen für die Menschen im größten Teil Russlands, in Sibirien: über die Wirtschaft, die sozialen Probleme und natürlich immer wieder über die Mobilmachung.

"Früher oder später muss man Russland verlassen"

Die ist auch ein wichtiges Thema für das andere unabhängige Medium Russlands: "Grosa", auf Deutsch "Das Gewitter". Seine Macher sitzen in Kasan, der Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan, in Jekaterinburg im Ural und in Nowosibirsk in Sibirien. Es sind Studenten, die für Studenten schreiben, "ein Netz der Studenten-Zeitschriften Russlands", wie "Grosa" sich selbst positioniert.

Die Themen reichen von Korruption in den Hochschulen bis hin zu Tipps und Verhaltensregeln für Studenten bei der Mobilmachung. Chefredakteur Leonid Spirin beschreibt das Themenspektrum gegenüber der DW so: "Für uns gibt es keine Unberührbaren. Sicherheitsbedenken unserer Mitarbeiter wirken sich nicht auf unsere redaktionellen Richtlinien aus." Redaktionskonferenzen zu heiklen Themen würden über den verschlüsselten Messengerdienst Signal abgehalten, echte Namen der Autoren würden nicht angegeben, zudem arbeite man mit lokalen Anwälten, die jederzeit helfen könnten.

Rückenansicht einer Person, bei der der Kopf nicht zu sehen ist: Auf dem Rücken einer Weste steht weiß auf schwarz in großen Lettern "Press". Auch an einem Rucksack für Equipment ist ein Schild mit "Press" in Großbuchstaben angebracht.
Über den Krieg in der Ukraine zu berichten, kann in Russland besonders gefährlich seinBild: Maca Vojtech Darvik/CTK/dpa/picture alliance

In den ersten sechs Monaten nach Kriegsbeginn versuchten "Grosa"-Macher, das berüchtigte Gesetz über die so genannte "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" einzuhalten. Darin ist unter anderem verboten, den Krieg in der Ukraine beim Namen zu nennen. "Das ist ein repressives Gesetz", kritisiert Spirin. "Sein wahres Ziel ist die Einschüchterung. Es gab unabhängige Medien in Russland, die von Anfang das Gesetz befolgten. Sie wurden dennoch verboten, weil sie unbequeme Themen ansprachen."

"Grosa" nennt also den Krieg bei seinem Namen. Ob Spirin Angst um seine jungen Kollegen in Russland hat? "Wir haben das natürlich thematisiert und festgestellt: Früher oder später muss man Russland verlassen, wenn man unabhängigen Journalismus machen will. Die Ausreise ist also nur eine Frage der Zeit."

Noch aber sind Medien wie "Grosa" und Taiga.info in Russland. Noch versuchen sie "nach wir vor mit scharfer Zunge zu berichten und darauf aufmerksam zu machen, was die meisten nicht sehen," erklärt Viktor Tschistjakow seine Mission. Er hofft, dass sein Portal Taiga.info weitermacht. Wie lange? Tschistjakow lächelt. "Solange es geht."