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Post-Pandemie: Werden wir uns wieder umarmen?

10. März 2021

Corona hat uns gelehrt, Distanz zu wahren und uns trotzdem nah zu sein. Händeschütteln oder Free Hugs gibt's längst nicht mehr. Doch ohne Berührungen geht es eben auch nicht - das zeigen auch frühere Pandemien.

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Free Hugs und Menschenmassen 2014 beim 31. Gurten Festival in der Schweiz
Bild: Peter Klaunzer/dpa/picture alliance

Abstandhalten zeugt von Empathie und Respekt allen anderen gegenüber. So schätzen und schützen wir gerade sowohl Fremde als auch Freunde, Familie und uns selbst.

Dennoch fühlt es sich falsch an, die Straßenseite zu wechseln, wenn wir anderen begegnen, wir jeglichen Kontakten ausweichen. Freunde und Familie nicht in den Arm zu nehmen – zu Feierlichkeiten, nach langem Wiedersehen oder einfach nur so. Es schaudert uns sogar, wenn wir Menschenaufläufe in Filmen sehen, und doch sehnen wir uns nach Nähe.

Sehnsucht nach Berührungen

Wie sehr uns diese soziale Abstinenz mitnimmt, zeigen zahlreiche Studien. Auch das sind Auswirkungen der Coronapandemie. SARS-CoV-2 ist ein winziges Virus, das nicht nur unserem Immunsystem zu schaffen macht, sondern eine immense Auswirkung auf alle erdenklichen Ebenen hat, nicht zuletzt der psychologischen.

Kaum vorstellbar

Die Pandemie gleicht einer endlosen Autofahrt, mit dem ein oder anderen unerwarteten Stau, bei der wir uns fragen: "Wie lange noch? Wann sind wir endlich da?". 

Am Ende erwarten wir Erleichterung, die wohlverdiente Erholung nach einer äußerst zehrenden Zeit. Wir erwarten die Rückkehr zur guten alten Normalität – ohne Masken, ohne Abstand.

Stadtverkehr in Novosibirsk, Russland
Die Corona-Pandemie – ein Superstau sondergleichen? Bild: Kirill Kukhmar/TASS/dpa/picture alliance

Doch werden wir diese Normalität überhaupt jemals zurückbekommen? Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Steven Taylor, Professor an der University of British Columbia in Vancouver (Kanada) und Autor von "Psychology of Pandemics: Preparing for the Next Global Outbreak of Infectious Disease". Gegenüber der DW sagt Taylor: "Vielen Menschen fällt es schwer, sich eine solche Rückkehr zur Normalität vorzustellen, was auf einem kognitiven Bias (Denkmuster) zurückzuführen ist".

Anchoring Bias oder Anker-Effekt bedeutet, dass wir uns an den ersten Teil einer Information klammern, und anschließende Handlungen – etwa Einschätzungen, Argumente, Schlussfolgerungen – danach ausrichten.

"Heute, im Jahr 2021, haben wir Schwierigkeiten, uns eine Zukunft vorzustellen, in der wir Hände schütteln, uns umarmen und Konzerte besuchen, weil wir psychologisch in einer Gegenwart verankert sind, in der solche Dinge verboten und unsicher sind", erklärt der Psychologe.

Italien | Umarmungen zu Coronazeiten
Bild: Laporta Salvatore/abaca/picture alliance

Wie dieser Anker-Effekt funktioniert, werde deutlich, wenn man Science Fiction-Romane aus den 1950er Jahren liest, in denen die Autoren versuchten, sich vorzustellen, wie das Leben im Jahr 1990 aussehen würde. "Typischerweise handelt es sich dabei um den Lebensstil und die Kultur von 1950, die auf 1990 extrapoliert werden, hauptsächlich durch Hinzufügen einiger technologischer Neuerungen, zum Beispiel fliegende Autos."

Psychologische Überbleibsel vergangener Pandemien

Doch lassen wir die Science Fiction und wagen einen Blick zurück auf frühere Epidemien und Pandemien – zum Beispiel den Zika-Virus-Notstand und die Influenza-Pandemien 1957, 1968 und 2009. "Da gibt es keine Hinweise auf langfristige Auswirkungen auf psychologische Funktionen", so Taylor. 

Steven Taylor, Professor für Psychologie an der University of British Columbia in Vancouver
Wie die Goldenen Zwanziger: Kurz nach dem Ende der Pandemie wird es eine sehr gesellige Zeit geben, glaubt Steven Taylor, Professor für Psychologie an der University of British ColumbiaBild: Privat

Dies könnte natürlich daran liegen, dass sie im Vergleich zu COVID-19 relativ mild waren. Aber auch für die Pandemie von 1889 – die "Russische Grippe" – gibt es kaum Hinweise auf langfristige Folgen. 

"Das lag wahrscheinlich an den Vorstellungen über die Art und Weise, wie Krankheiten übertragen werden", vermutet Taylor. "Zu dieser Zeit war der Glaube weit verbreitet, dass Krankheiten durch Miasmen (Anm. der Red: krankheitsverursachende Nebel, die nachts entstehen) verbreitet werden." 

Die Miasma-Theorie war in diesem Zusammenhang neu. Daher waren damals viele Menschen unbesorgt, wenn es darum ging, Hände zu schütteln oder Husten abzudecken, weil sie nicht wussten, dass eine Infektion von Mensch zu Mensch übertragen werden konnte.

Anders war es bei der "Spanischen Grippe". Hygienepraktiken wie Händewaschen, das Abdecken von Husten und das Unterlassen des Spuckens wurden in den Gemeinden nach 1918 wahrscheinlich üblicher, aber es sei bemerkenswert, dass es keine anderen Veränderungen gab, findet Taylor. "Denken Sie zum Beispiel an das Tragen von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit, das während der Pandemie 1918 in den westlichen Ländern üblich und sogar vorgeschrieben war. Die Gewohnheit, Masken zu tragen, verschwand schnell, nachdem die Pandemie vorüber war", so Taylor. 

Schwestern des US-amerikanischen Roten Kreuzes beim Herstellen von Mundschutz-Masken am 20. März 1919
Maskenpflicht, Kontaktsperren, Grenzschließungen, Quarantänevorschriften: Bei der Spanischen Grippe gab es Maßnahmen wie heute, um die Pandemie zu stoppenBild: picture-alliance/akg-images

Also mussten wir mit COVID-19 das Maskentragen erst wieder neu lernen. Wobei die Situation in westlichen Ländern natürlich anders als in asiatischen Ländern war, wo das Tragen von Masken zu einer etablierten Gewohnheit geworden ist, schreibt Taylor – sogar um die Übertragung von Erkältungen zu verhindern. "Die SARS-Epidemie von 2003 in einigen asiatischen Ländern (z. B. Taiwan) hatte wahrscheinlich einen nachwirkenden Einfluss und bereitete diese Länder darauf vor, mit Beginn von COVID-19 schnell und frühzeitig Lockdowns zu verhängen."

Zurück zur alten Normalität

Kurz nach dem Ende der COVID-19-Pandemie mag es eine Art kurzlebige "Roaring 20s' geben", prognostiziert Taylor. "Die werden sich durch besonders intensive Geselligkeit auszeichnen, aber auch das wird vorübergehen, wenn die Dinge wieder so werden, wie sie vor COVID-19 waren." 

Wuhan Maya Beach Park
Ein ungewohntes Bild - Menschenmassen tummeln sich auf einer Party im Wuhan Maya Beach Park letzten AugustBild: Stringer/REUTERS

Der Psychologe glaubt, dass Gemeinschaften sich von COVID-19 auf eine Weise erholen werden, die viele Menschen überraschen wird. Wer sich an die Bilder der Party im Wuhan Maya Beach Park letzten August erinnert, wird daran sicher nicht zweifeln. 

Haptik-Forscher und Psychologieprofessor Martin Grunwald
"Ohne Körperkontakt geht's nicht", sagt Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Labors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Uni LeipzigBild: Philipp Brandstädter/dpa/picture alliance

"Die Mehrheit der Menschen wird sich wieder die Hände schütteln, sich umarmen, in überfüllte Kneipen und Restaurants gehen und an überfüllten Stadionveranstaltungen wie Fußballspielen teilnehmen", ist sich auch Martin Grunwald sicher, Leiter des Haptik-Labors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig. 

"Bei den ersten Anzeichen dafür, dass der Kontakt zum anderen nicht mehr gefährlich ist, werden wir wieder zu unserem alten Verhalten zurückkehren," so der Haptik-Forscher und Psychologieprofessor.

Ohne Berührungen – ohne uns!

Grunwald sieht Berührungen als unerlässlich für unsere Spezies der Homo sapiens. "Der menschliche Organismus entwickelt sich nur im engsten Körperkontakt zu dem sozial anderen. Das ist sozusagen eine Grunderfahrung unserer Spezies", sagt Grunwald. So ginge es eigentlich allen nesthockenden Säugetieren – sie alle brauchen Körperkontakt, damit sie richtig wachsen.

"Jemand ist uns nahe, dem wir körperlich nahe sind", erklärt Grunwald. Das habe nichts mit Sexualität zu tun, sondern diese Kontaktbiologie sei eine zentrale Erfahrung unseres Lebens. Seine Erkenntnisse zu Berührungen und zum Tastsinn hat der Forscher in dem populärwissenschaftlichen Buch "Homo Hapticus" aufgeschrieben.  

Wie funktioniert unser Tastsinn?

"Die Körperinteraktion mit dem Anderen ist sozusagen in unserer biologischen oder sozialen DNA. Sie ist geprägt von unseren Erfahrungen, die wir als Kinder, als Säuglinge gemacht haben. Wir werden zu diesen Grundkommunikationsformen wieder zurückfinden," sagt Grunwald. Kurzum: Ohne Berührung können wir nicht sein.

Ethisch bedenklicher Bindungsentzug

Das wissen wir auch nicht erst seit heute. In den 1950er Jahren gab es bereits eindeutige Forschung dazu – die Harlow-Versuche sind zu einem durchaus umstrittenen Paradebeispiel geworden: 

Harry Harlow erforschte mit Rhesusaffen-Babys die Grundlagen der Mutter-Kind-Bindung. In seinen Experimenten setzte Harlow junge Rhesus-Äffchen ohne ihre Mutter in einen Käfig.

Dann hatten sie die Wahl zwischen zwei Attrappen: einer aus Draht nachgebildeten, Milch-spendenden Ersatzmutter und einer gleich großen, mit Stoff bespannten Ersatzmutter, die allerdings keine Milch spendete.

Die Äffchen hielten sich bei der Milchspenderin stets nur zur Nahrungsaufnahme auf, kuschelten sich aber ansonsten auf die stoffbespannte Mutter-Attrappe. Herzzerreißende Bilder.

Insbesondere zu der Zeit der Studie war diese Erkenntnis eine absolute Neuigkeit – denn bis dato gab es besonders gegenüber männlichem Nachwuchs weit verbreitet die Gewohnheit, Umarmungen und anderen intensiven Körperkontakt zu vermeiden.

Es folgten weiter Experimente, in denen junge Äffchen in unterschiedlicher sozialer Umgebung aufgezogen wurden – einige Tiere völlig isoliert, andere nur mit ihrer Mutter, und wieder andere mit Müttern und gleichaltrigen Spielgefährten. Die Äffchen, denen Kontakte vorenthalten wurden, zeigten ausnahmslos schwere Entwicklungs- und Verhaltensstörungen.

Die Experimente machen deutlich, wie essenziell Körperkontakt für die Entwicklung eines gesunden Sozialverhaltens ist. Harlows Untersuchungen waren und sind allerdings ethisch durchaus bedenklich. Daher sind auch Studien am Menschen bis heute rar.

Was macht eine Umarmung aus?

Nun, gehen wir davon aus, dass Taylor und Grunwald richtig liegen, und sobald es die ersten Anzeichen dafür gibt, dass der Kontakt zum anderen nicht mehr gefährlich ist, wir wieder zu diesem Verhalten zurückkehren werden: Wissen wir dann noch, wie's geht? Wie wir aufeinander zugehen können? Den Wunsch nach Nähe, Berührung und Umarmung signalisieren? 

Sabine Koch, Professorin für Tanz- und Bewegungstherapie an der SRH Hochschule Heidelberg
Sabine Koch, Professorin für Tanz- und Bewegungstherapie, forscht zu UmarmungenBild: Konrad Gös/SRH Hochschule Heidelberg

"Anfangs ist das bestimmt etwas holprig. Das sieht man ja jetzt schon, wenn wir auf Menschen treffen und nicht recht wissen, wie wir ihnen begegnen sollen", sagt Sabine Koch, Professorin für Tanz- und Bewegungstherapie an der SRH Hochschule Heidelberg und Leiterin des Forschungsinstituts für Künsterische Therapien an der Alanus Hochschule.

Sie hat schon vor Corona zu Umarmungen geforscht, wie etwa Körperrhythmen das Bedürfnis nach Nähe und Trennung kommunizieren.

Dabei bestätigte Koch die Annahme, dass es hierbei verschiedene Phasen gibt: Umarmungen gehen von einer ersten hingebenden Phase mit weichen, runden Bewegungen in die nächste Phase über, in der der Körper angespannter ist. Dann kommt es in der Regel zu irgendeiner Art Klopfen auf den Rücken oder auf die Schulter – ein Ablösesignal, welches das Ende der Umarmung signalisiert und bedeutet: "Das war mir jetzt genug und wir können uns lösen." Dieser Ablauf mache eine gute Umarmung aus, so Koch.

Free Hugs Zone-Grafitti auf dem Boden
Wie nah darf ich dir kommen? Umarmen werden wir uns sicher wieder – doch anfangs sollten wir sensibel dabei vorgehenBild: Alexander Schuhmann/picture alliance

Allerdings hat sie während ihrer Studie auch eine interessante Ausnahme beobachtet: Die Phasen gelten für alle Kombinationen von Frauen mit Männern und Frauen mit Frauen. Doch für Männer, die Männer umarmten, traf es nicht zu. Ihre Umarmungen begannen, zumindest im öffentlichen Kontext, sofort mit dem Schulterklopfen – diesem kämpferischen Rhythmus. 

Doch diesen typischen Ablauf mal außer Acht, kommt es auch sehr auf die Qualität der Umarmung an. Das bedeutet: Wie angespannt oder entspannt ist der andere in seinem Körper? Geht er dabei auf mich zu, lehnt er sich zu mir hin, geht er ein bisschen zurück? "Auch diese Kleinigkeiten machen am Ende die Qualität einer Umarmung aus", erklärt Koch. Solche Mikrobewegungen der Annäherung und Vermeidung analysiert sie insbesondere in der Bewegungsanlyse und -therapie.

Seid sensibel!

Also: Verlernt haben wir das Umarmen aufgrund der Pandemie sicher nicht, aber Koch geht davon aus, dass es anfangs etwas Zurückhaltung geben wird – eine Art Übergangsphase. "Ob und wie wir uns umarmen, findet dann auf der non-verbalen Ebene als Verhandlung statt. Ist es jetzt okay dich zu umarmen oder ist es das nicht?"

Angst vor Berührung

"In unserer Studie hat sich auch gezeigt, dass Menschen auf der non-verbalen Ebene ganz unterschiedliche Sensitivitäten haben", sagt Koch. Heißt: Die einen merken es sofort, wenn jemand bei einer Umarmung anfängt zu klopfen und das Ablösungssignal ertönt und gehen einen Schritt zurück. Die anderen merken das viel später, und wieder andere merken das gar nicht.

Nach der Pandemie kommt es also ganz besonders auf die Sensibilität jedes einzelnen an: Sind da wirklich Zeichen, dass der andere es auch will? Mitunter ist das gar nicht so leicht zu erkennen. Im Zweifelsfall lässt man anfangs also vielleicht doch davon ab. Oder: Man spricht darüber – und fragt einfach explizit nach, ob man sein Gegenüber in den Arm nehmen darf. 

Hannah Fuchs Multimedia-Reporterin und Redakteurin mit Fokus auf Technik, digitalen Themen und Psychologie.