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Literatur

Peter Stamm: "Agnes"

Jochen Kürten
7. Oktober 2018

Vom Zauber der Schlichtheit: Peter Stamms Debütroman "Agnes" fasziniert durch puristische Sprache und Dialoge. Doch von den vielen kurzen Sätzen und einfachen Konstruktionen sollte man sich nicht täuschen lassen.

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Film Agnes, Regisseur Johannes Schmid
Szene aus Johannes Schmids Romanverfilmung von 2016Bild: Neue Visionen Filmverleih

"Ich saß in der Public Library und studierte, wie schon seit Tagen, alte Bände der Chicago Tribune, als ich Agnes zum ersten Mal sah." 

Ein junger Mann lernt eine Frau kennen. Er verliebt sich in sie. Die beiden werden ein Paar. Der Ich-Erzähler schreibt ein Buch über amerikanische Luxuseisenbahnwagen, die junge Frau eine Dissertation: "Die Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallgittern".

"Agnes" von Peter Stamm

"Agnes" ist auch ein Buch über Literatur

Nebenbei verfasst der junge Mann Geschichten. Ein Schriftsteller ist er nicht, zumindest keiner, der von seinen Büchern leben kann. Nachdem er mit Agnes zusammengekommen ist, bedrängt diese ihn, ein neues Buch anzufangen, ein Buch über sie. Der junge Mann beginnt tatsächlich, einen Text zu schreiben, der von Agnes handelt. Der erste Satz des Manuskripts lautet:

"Ich sah Agnes zum ersten Mal in der Chicago Public Library im April des Jahres." 

Wer nun meint, Peter Stamm betreibe in seinem Roman "Agnes" ein hochkomplexes Spiel um richtiges Leben und erdachte Literatur, um Fiktion und Realität, der irrt. "Agnes" ist in erster Linie eine sehr eindringlich erzählte Liebesgeschichte.

Nebenbei bietet der Schweizer Autor zwar auch Stoff zum Grübeln und Nachdenken, doch die zweite Ebene, die Stamm mit dem "Buch im Buch" einzieht, überfrachtet den Roman nicht. Man kann "Agnes" als das lesen, was es auf den ersten Blick auch ist: Die Geschichte von zwei Menschen, die sich näher kommen, sich lieben.

Das heißt nicht, dass Stamms Liebes-Geschichte ohne Ecken und Kanten daherkommt. Früh heißt es etwa:

"Nach dem Essen trank ich Kaffee. Agnes bestellte Tee. Wir hatten einen Augenblick lang schweigend dagesessen, als sie plötzlich sagte: Ich habe Angst vor dem Tod". 

Peter Stamm, Autor
Peter StammBild: Imago/S. Simon

Das Thema Tod schleicht sich früh ein in die Erzählung, es verleiht dem Geschehen von Anfang an einen Hauch von Melancholie und sogar Trauer. Dass das Ganze nicht glücklich enden wird, weiß der Leser freilich schon nach den ersten drei Wörtern im Buch, nach dem ersten Satz:

"Agnes ist tot." 

Vom Zauber einfacher Sprache

Peter Stamms Romandebüt "Agnes" aus dem Jahre 1998 zeichnete schon aus, wofür der Schweizer Autor seither steht: für eine einfache, bis auf das Skelett abgenagte Sprache, für ebenso verständliche Dialoge, für Geschichten, die auch ungeschulte Leser auf Anhieb verstehen. Und doch haben es die Texte Stamms, ein halbes Dutzend Romane und zahlreiche Erzählungen in den letzten 20 Jahren, in sich. Eben weil sie immer auf etwas Anderes verweisen, etwas Größeres, was jenseits der Haupthandlung auch noch von Bedeutung sein könnte.

In "Agnes" sagt der Ich-Erzähler an einer Stelle über das Buch, das er begonnen hat:

"Es muss etwas passieren, damit die Geschichte interessanter wird, sagte ich endlich zu Agnes." 

Deutschland Schüler liest Schullektüre 2013 | Peter Stamm, Agnes
Gehört in vielen Gymnasien zur Schullektüre: Peter Stamms Romandebüt "Agnes"Bild: picture-alliance/dpa/U. Deck

Und tatsächlich nimmt die Liebesgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler und Agnes daraufhin einen anderen Verlauf. Passiert das nun, weil das im Manuskript des Ich-Erzählers angedeutet wird? Verändert sich das Romangeschehen in "Agnes" aufgrund dieses Textes über Agnes? Das sind Fragen, die Peter Stamm dem Leser mit auf den Weg gibt. Beantworten muss er diese selbst. Gerade diese Leerstellen machen den Reiz von Stamms Romanen aus, vor allem auch den seines Romandebüts "Agnes".

 

Peter Stamm: "Agnes" (1998), Fischer Taschenbuch Verlag

Peter Stamm, 1963 im schweizerischen Kanton Thurgau geboren, gehört inzwischen zu den erfolgreichsten Schriftstellern in seiner Heimat, vor allem aber auch in Deutschland. Er schreibt Kurzgeschichten, Romane, Hörspiele und Theaterstücke. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2018 wurde Peter Stamm mit der Heinrich-Heine-Gastdozentur beauftragt. 2016 wurde "Agnes" von Johannes Schmid fürs Kino verfilmt.