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Politik

Myanmar: Parlamentswahl bedingt demokratisch

8. November 2020

Die von Aung San Suu Kyi geführte Regierung in Myanmar dürfte bei den Parlamentswahlen an diesem Sonntag bestätigt werden. Die Regierungspartei NLD hat kaum Konkurrenz. Dennoch birgt ihr Wahlsieg Konfliktpotential.

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Myanmar Kundgebung zur Unterstützung von Aung San Suu Kyi
Bild: AFP/T. Aung

"Ich habe mich entschieden, nicht wählen zu gehen, denn die Regierung hat mich weder als Wähler noch als Bürger überzeugt." Ye Wai Phyo Aungs Enttäuschung über Aung San Suu Kyi und ihre Partei, die Nationale Liga für Demokratie (NLD), ist beim Gespräch mit der Deutschen Welle nicht zu überhören. Dabei war er bei der Parlamentswahl von 2015 noch mit Begeisterung um vier Uhr morgens aufgestanden, um als einer der ersten am Wahllokal zu sein.

Die NLD, die 2015 unter dem Wahlkampfmotto "Time for Change" ("Zeit für den Wechsel") angetreten ist, hat in ihrer ersten Amtszeit wenig erreicht. Die wirtschaftliche Entwicklung blieb hinter den Erwartungen zurück, die Meinungs- und Pressefreiheit sind weiterhin eingeschränkt. Bei der Vertreibung der nationalen Minderheit der Rohingya hat die NLD sich auf die Seite des Militärs gestellt, und der seit Jahrzehnten stockende Friedensprozess mit aufständischen Volksgruppen in den Grenzgebieten des Landes kommt ebenfalls nicht voran. Der polnische Politologe und Myanmar-Kenner Michal Lubina stellt in seinem gerade erschienenen Buch über Aung San Suu Kyi fest: "Sie hat im Wahlkampf 2015 Veränderungen angekündigt, aber ihre Herrschaft bedeutet alles andere als Veränderung. Es ist eine Modifikation der Militärherrschaft, keine grundlegende Transformation."

Ye Wai Phyo Aung im Stadtzentrum von Yangon. Er will dieses Jahr nicht wählen gehen.
Ye Wai Phyo Aung kämpft gegen den Internet-Shutdown in Teilen von Myanmar. Er geht dieses Jahr nicht wählenBild: Cape Diamond

Sieg der NLD wahrscheinlich

Dennoch besteht nach Einschätzungen von Experten wie Richard Horsey von der International Crisis Group (ICG) aus Brüssel wenig Zweifel daran, dass Aung San Suu Kyi und die NLD die Wahlen erneut gewinnen werden. Dafür sprechen mehrere Gründe:

Zum ersten kommt es in Myanmars stark vom Buddhismus geprägter politischer Kultur weniger darauf an, was ein politischer Führer konkret erreicht, als vielmehr darauf, ob er als moralisch integer wahrgenommen wird. Im Falle von Aung San Suu Kyi ist das in Myanmar - trotz oder gerade wegen der Rohingya-Krise - nach wie vor der Fall. Die harsche Verurteilung der Friedensnobelpreisträgerin im Westen hat ihre Wahlaussichten verbessert, denn die Mehrheitsbevölkerung schließt sich hinter ihrer Anführerin zusammen. Allgemein gilt: Jeder Erfolg wird Aung San Suu Kiy gutgeschrieben, während jedes Scheitern dem Militär, verkrusteten Strukturen und unwilligen Beamten oder vermeintlich feindlich gesinnten Ausländern angelastet wird.

Das Rohingya-Flüchtlingslager Kutupalong ist eines der größten der Welt
Seit August 2017 sind etwa 700.000 Rohingya aus Myanmar nach Bangladesch geflüchtetBild: Getty Images/AFP/S. Rubel

Zum zweiten ist keine Alternative in Sicht. Viele in Myanmar denken an die Herrschaft der Militärs durch deren Partei, die Solidaritäts- und Entwicklungspartei der Union (USDP), mit Grausen zurück. Der USDP ist es nicht gelungen ihr Image als Militärpartei abzuschütteln und ein eigenes demokratisches Profil aufzubauen. Auch die insgesamt etwa 100 anderen Parteien, die sich um Parlament bewerben, haben wenig Aussicht auf Erfolg. Allenfalls können einige Minderheitenparteien in ihren Regionen punkten.

Problematisches Wahlrecht

Zum dritten begünstigt das Mehrheitswahlrecht Myanmars große nationale Parteien. Bei den Wahlen von 2015 eroberte die NLD 79 Prozent der Sitze mit nur 57 Prozent der Stimmen, während die von den Militärs unterstützte USDP zwar 28 Prozent der Stimmen erhielt, aber nur acht Prozent der Sitze erhielt. Freilich stehen ohnehin nur 75 Prozent der Sitze im Parlament zur Wahl. Das Militär setzt ein Viertel der Parlamentarier direkt ein, was ihm eine Sperrminorität für Verfassungsänderungen garantiert.

In einem ethnisch diversen und fragmentierten Staat sei das Mehrheitswahlrecht das denkbar schlechteste Wahlsystem, wie Horsey in seiner aktuellen Analyse für die ICG schreibt. Das erwartbar gute Abschneiden der NLD und die systembedingte fehlende Repräsentation der Minderheiten birgt erheblichen Sprengstoff. Horsey schreibt: "Das Ergebnis wird die Entfremdung von dem Wahlprozess unter den Minderheiten verstärken und die zahllosen bewaffneten Konflikte voraussichtlich weiter anheizen." Aktuell gibt es vor allem im Rakhine- und im Shan-Staat Kämpfe, aber auch anderswo kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Von der Gewalt direkt betroffen ist nach Schätzungen der Asia Foundation etwa jeder vierte der fast 54 Millionen Einwohner des Landes.

Treffen von Min Aung Hlaing und Aung San Suu Kyi 2015
Oberbefehlshaber der Streitkräfte Min Aung Hlaing (li) und Aung San Suu Kyi (re) bei einem Treffen 2015. Suu Kyi vertritt die zivile Regierung, Min Aung Hlaing das Militär, das einer parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen istBild: Reuters/Soe Zeya

Freie und faire Wahlen in Zeiten von COVID-19

Wegen der vom Militär eingebauten Sicherungsmechanismen ist nach Horsey und anderen Experten nicht zu erwarten, dass es an den Urnen zu Wahlfälschungen kommt. Dennoch hat die UN-Sonderbeauftrage für Menschenrechte, Ravina Shamdasani, Ende Oktober in Genf erhebliche Bedenken bezüglich der Wahlen geäußert. Wegen der andauernden Gewalt in Teilen des Landes habe die Wahlkommission in insgesamt fast 60 Gemeinden (Townships) die Wahlen gestoppt, außerdem seien die im Land verbliebenen Rohingya von der Stimmabgabe ausgeschlossen worden, obwohl sie an vergangenen Wahlen teilnehmen durften. Schließlich hätten Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit im Vorfeld der Wahlen zugenommen, berichtete Ravina Shamdasani. Als problematisch gilt auch, dass die Wahlkommission, die die Wahlen organisiert und auf etwaigen Beanstandungen reagieren muss, von Mitgliedern der NLD dominiert wird.

Hinzu kommt, dass COVID-19 das Land hart getroffen hat. Wahlveranstaltungen sind seit Wochen nicht mehr gestattet. Der Wahlkampf findet im Internet statt, wo die NLD Vorteile hat, da sie über eine bessere Vernetzung verfügt. Aung San Suu Kyis Facebook-Seite ist eine der populärsten im ganzen Land. In einigen Landesteilen (Rakhine- und Chin-Staat) dauert seit Monaten ein Internet-Shutdown an. Hier gibt es praktischen gar keinen Wahlkampf – weder online noch offline. Viele Oppositionsparteien haben in den vergangenen Monaten vergeblich gefordert, die Wahlen wegen der Corona-Pandemie zu verschieben.

Nach der zu erwartenden Niederlage werden die Opposition und die Minderheiten die schwierigen Ausgangsbedingungen und die vielen Mängel der Wahl beklagen und damit die Legitimität und Akzeptanz des Wahlergebnisses untergraben, ist sich Horsey sicher: "Auch wenn das Wahlergebnis selbst nicht problematisch ist, so wird es doch sehr umstritten sein und die Spaltung des Landes vertiefen."

Soldaten der Kachin Independence Army auf einer Dschungelpiste
Kämpfer der "Kachin Independence Army" (KIA), eine der vielen Minderheitenarmeen in MyanmarBild: picture-alliance/AP Photo/E. Htusan

Demokratische Zukunft des Landes

Zeya Thu, birmanischer Journalist, Herausgeber und Kommentator, ist dennoch überzeugt, dass sich das Land grundsätzlich auf dem Weg zu mehr Demokratie befindet. In einem Gastbeitrag für die Heinrich-Böll-Stiftung betont er, dass die Wahl nur eins von insgesamt drei politischen Machtzentren in Myanmar betreffe, nämlich die zivile Regierung. Daneben gibt es das Militär und die ethnischen Minderheiten bzw. die bewaffneten Gruppen. Diese Dreiecks-Konstellation habe, so Zeya Thu, dazu geführt, dass die Demokratie im Land bisher nicht gut funktioniert hat. Allerdings versuchten das Militär und die bewaffneten Gruppen das Wahlergebnis in ihrem Interesse zu beeinflussen, und nicht, die Wahl zu verhindern, was Zeya Thu als indirekte Akzeptanz deutet. "Insofern und mit einigen Einschränkungen unterstützen sie die Wahldemokratie in Myanmar."

Auch der Politologe Marco Bünte von der Universität Erlangen-Nürnberg beobachtet den Transformationsprozess des Landes seit Jahren. Im Gespräch mit der Deutschen Welle betont er: "Die vom Militär 2008 geschriebene Verfassung ist eine Art Zwangsjacke. Aung San Suu Kyi und die zivile Regierung hatten und haben nur wenig Spielraum. Das Drohpotential ist gewaltig und die NLD muss das berücksichtigen." Die Erwartungen nach 2015 seien im In- und Ausland überzogen gewesen. Die aktuelle Macht des Militärs und das Erbe von 50 Jahren Militärherrschaft dürfe man nicht unterschätzen. "Der demokratische Prozess, so eingeschränkt wie er auch ist, wird langsam umgesetzt. Das Parlament regiert. Das ist vielleicht nur ein Minimalerfolg, aber immerhin."

Rodion Ebbinghausen DW Mitarbeiterfoto
Rodion Ebbighausen Redakteur der Programs for Asia