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NSU: Die Aufklärung geht weiter

Marcel Fürstenau, Berlin17. Dezember 2015

Der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestages holt sich Rat bei Rechtsextremismus-Experten aus Medien und Behörden. Besonders dankbar sind die Abgeordneten der Frau, die sich um die Familien der NSU-Opfer kümmert.

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Deutschland Barbara John Ombudsfrau für NSU Opfer
Bild: picture-alliance/AA/M. Kaman

Clemens Binninger ist beeindruckt von den Sachverständigen, die am Donnerstag in Berlin zum Thema Rechtsextremismus sprechen. Der Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) soll eine erste Bewertung abgeben. Er beginnt mit einer Würdigung der früheren Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John (Artikelbild). Die 77-Jährige ist seit Dezember 2011 Ombudsfrau für NSU-Opfer und Familien der Ermordeten. "Wir sind Frau John dankbar, dass sie ihre Arbeit so bewundernswert ehrenamtlich macht", sagt Binninger im Namen des Ausschusses.

Zuvor hat John geschildert, wie es den Menschen geht, die durch Bombenanschläge des NSU verletzt wurden oder sogar Angehörige verloren haben. Und das sind viele. Die im November 2011 aufgeflogene Terrorgruppe soll zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordet und mehr als doppelt so viele teilweise schwer verletzt haben. Strafrechtlich werden die rassistisch motivierten Taten seit gut zweieinhalb Jahren vor dem Münchener Oberlandesgericht verhandelt. John ist immer wieder mal vor Ort. Sie kann nachvollziehen, wie die Hauptangeklagte Beate Zschäpe auf Mütter und Väter, Brüder und Schwestern von NSU-Opfern wirkt: gefühlskalt, arrogant, manchmal erschöpft.

John bedauert Zschäpes und Wohllebens "lapidare Aussagen"

Unter dem jahrelangen Schweigen der mutmaßlichen Rechtsterroristin haben die Familien der NSU-Opfer am meisten gelitten. Umso größer ist ihre Enttäuschung nach der Erklärung, die Zschäpes Pflichtverteidiger Mathias Grasel vergangene Woche vom Blatt abgelesen hat. Fragen der Nebenkläger, also der Opfer und Angehörigen, wird die Hauptangeklagte ausdrücklich nicht beantworten. Barbara John hat den Auftritt der mutmaßlichen Rechtsterroristin im DW-Interview als "wirklich erbärmliche Vorstellung" missbilligt. Auch deshalb freut sich die Ombudsfrau, dass der Bundestag nach 2012/13 zum zweiten Mal einen NSU-Untersuchungsausschuss eingerichtet hat. Der erste war zu dem Ergebnis gekommen, dass die deutschen Sicherheitsbehörden beim Umgang mit Rechtsextremismus total versagt hätten.

Rund 1400 Seiten umfasst der 2013 vorgelegte Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses
Rund 1400 Seiten umfasst der 2013 vorgelegte Abschlussbericht des ersten NSU-UntersuchungsausschussesBild: picture-alliance/dpa

Es gebe noch viele offene Fragen, sagt John stellvertretend für die Nebenkläger im NSU-Prozess. Die wüssten gerne, warum gerade sie oder ihre Angehörigen als Opfer ausgesucht worden seien. Und was taten die Sicherheitsbehörden nach dem Untertauchen des NSU-Trios Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Jahr 1998? Darauf gaben weder Zschäpe noch der Mitangeklagte Ralf Wohlleben Antworten. Der frühere Funktionär der rechtsextremen NPD hat am Mittwoch ebenfalls sein Schweigen gebrochen. "Lapidare Aussagen" bescheinigte John den beiden.

Geld für Reisen zum NSU-Prozess und zu Gedenkorten

Trotz der enttäuschten Hoffnungen habe sich die Lage der NSU-Opfer und ihrer Familien "sehr stark stabilisiert", berichtet die Ombudsfrau weiter. Damit meint sie die materielle und die psychische Verfassung. Mit Hilfe eines Spendenfonds, an dem sich auch der Bundestag beteiligt, könnten finanzielle Engpässe zumindest teilweise behoben werden. Das Geld wird für Ausbildungsmaßnahmen verwendet, aber auch für die Anreise der Angehörigen zum NSU-Prozess oder den Besuch der Gedenkorte für die Opfer. Das sei "etwas sehr Bedeutsames" für die Familien, betont John.

Diese Gedenktafel mit den Namen der zehn NSU-Opfer steht in Dortmund
Diese Gedenktafel mit den Namen der zehn NSU-Opfer steht in DortmundBild: picture-alliance/dpa

Die Arbeit der Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern empfänden sie als Hilfe. Auch die Anteilnahme des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff unmittelbar nach der Selbstenttarnung des NSU. Erst dadurch wurden die wahren Hintergründe der ungeklärten Mord-Serie bekannt. In den Jahren zuvor hatten die Sicherheitsbehörden vor allem im familiären Umfeld der Opfer nach den Tätern gesucht. Eine Folge verfestigter Vorurteile in Behörden, davon ist John überzeugt. Und diesen Befund bestätigte auch der erste NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages.

Verfassungsschutz will transparenter werden

Einen spürbaren Mentalitätswandel vermisst John nach wie vor. Nach ihrem Eindruck ist die Aus- und Weiterbildung der Polizei in den Fachhochschulen nicht systematisch verbessert worden. Neue Strukturen allein seien unzureichend, entscheidend sei die Haltung der Menschen. Als "Hoffnungsschimmer" erscheint es ihr, dass junge Auszubildende heutzutage viel mehr interkulturelle Kontakte hätten als in früheren Zeiten.

Eine positive Zwischenbilanz vier Jahre nach dem NSU-Schock zieht Burkhard Freier aus dem Innenministerium Nordrhein-Westfalen. Der Vorsitzende eines Arbeitskreises von Verfassungsschützern verweist auf die Reform der Behörden, die vom ersten NSU-Untersuchungsausschuss als besonders dringlich empfohlen wurde. Man wolle so transparent wie möglich sein und "verlorenes Vertrauen wiedergewinnen". Die mangelhafte Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden sei ein "ganz gravierender Fehler" gewesen.

Warnung vor neuem Rechtsterrorismus

Mit Blick auf die besonders umstrittene Rolle der V-Leute des Verfassungsschutzes sagt Freier, man habe inzwischen eingesehen, "dass Strafverfolgung wichtiger ist als der Schutz einer Einzelquelle". Im NSU-Prozess ist von der behaupteten neuen Offenheit allerdings nichts zu spüren, weil wichtige Akten über zwielichtige Spitzel aus der rechtsextremistischen Szene weiterhin unberücksichtigt bleiben. Das liegt daran, dass sie von den zuständigen Ministerien unter Verschluss gehalten werden. Nicht nur unter den Opfer-Familien nährt das den Verdacht, die Politik habe etwas zu verbergen.

"Quellenschutz vor Strafverfolgung" steht auf einem Protestplakat vor dem Oberlandesgericht in München, wo der NSU-Prozess stattfindet
Protest vor dem Münchener Oberlandesgericht, wo seit Mai 2013 der NSU-Prozess stattfindetBild: DW/M. Fürstenau

Derweil warnen Journalisten, die sich gut im Nazi-Milieu auskennen, vor neuen Terrorgefahren nach dem NSU-Vorbild. Die seit vielen Jahren zu diesem Thema recherchierende Andrea Röpke verweist auf Parteien wie die NDP, "Der III. Weg" und "Die Rechte". Es gebe eine "gewaltbereite, enthemmte, verrohte Bewegung", die durch und durch rassistisch sei. Die "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) seien nur scheinbar eine unorganisierte Wutbürger-Bewegung. Dahinter steckten Drahtzieher aus der rechten Szene, warnt Röpke.

Binninger: "Die Lage ist brisant und gefährlich"

Im neuen NSU-Untersuchungsausschuss nimmt man solche Warnungen sehr ernst. Der Vorsitzende des Gremiums, Clemens Binninger, schätzt das Gefahrenpotenzial durch Rechtsextremismus aktuell höher ein als noch vor ein paar Jahren. "Die Lage ist brisant und gefährlich", meint der Christdemokrat. Seine Kollegin von der Linken, Petra Pau, verweist auf die Welle rassistischer Gewalt in Deutschland. Meldungen über brennende Flüchtlingsheime und Attacken auf Ausländer häufen sich. Eine Entwicklung, die Sozialdemokrat Uli Grötsch alarmiert zur Kenntnis nimmt: Es zeige, "dass wir goldrichtig liegen". Soll heißen, der NSU-Untersuchungsausschuss komme gerade zur rechten Zeit.