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Nord Stream: Sorge um das Gas aus dem Osten

21. Juli 2022

Es fließt wieder Gas aus Russland durch Nord Stream 1, aber stark gedrosselt. Die Bundesregierung reagiert mit weiteren Energiesparmaßnahmen. Putin sei ein unsichererer Kantonist in der Energieversorgung.

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Deutschland | Gas Pipeline Nord Stream 1
Bild: Hannibal Hanschke/REUTERS

Es fließt wieder Gas durch die wichtigste Gaspipeline nach Deutschland. Doch es ist genau so wenig wie vor den Wartungsarbeiten: Nur 40 Prozent der normalen Kapazität. Das zeigt die Webseite von Nord Stream 1. Ob es dabei bleibt, ist unklar. Wohin die Reise bei Nord Stream 1 gehen könnte, zeigt eine Äußerung des russischen Präsidenten Wladimir Putin: Aufgrund "langsamer Fortschritte bei der Wartung" könnte die Liefermenge weiter reduziert werden, sagte er bei seinem Besuch in Teheran.

Insgesamt gebe es fünf Turbinen von Siemens Energy bei Nord Stream. Eine sei wegen "Bröckelns der Innenauskleidung" außer Betrieb, eine andere in Wartung, bei der dritten beginne die Wartung am 26. Juli. "Es gibt dort zwei funktionierende Maschinen, sie pumpen 60 Millionen Kubikmeter pro Tag ... Wenn eine nicht zurückkommt, gibt es eine, die 30 Millionen Kubikmeter pumpt. Was hat Gazprom damit zu tun?", so Putin. 

Die Turbine ist längst unterwegs

Der russische Präsident schiebt die Schuld auf den Westen und auf die gegen Russland verhängten Sanktionen. Siemens wartet seine Turbinen in einem Werk in Kanada. Die Kanadier blockierten die Rückführung zunächst wegen der Sanktionen. Daraufhin reduzierte der vom Kreml kontrollierte Energieriese Gazprom die Gasexporte durch Nord Stream Ende Mai und noch einmal drastisch Mitte Juni auf 40 Prozent der normalen Kapazität.

Infografik Karte Erdgasleitungen aus Russland und Kaukasus in die EU

Doch das Problem mit der blockierten Rückführung ist längst ausgeräumt. Die Bundesregierung hatte mit Kanada vereinbart, dass die Turbine zunächst nach Deutschland kommt und erst von dort nach Russland geschickt wird. Die Turbine sei Anfang der Woche in Deutschland angekommen und jetzt unterwegs nach Russland, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am Donnerstag. Die Begründung für die Drosselung sei vorgeschoben. Der Kreml habe technische Aspekte politisiert, um nur 40 Prozent zu liefern. Man wisse, dass genug Turbinen für den Pipeline-Betrieb verfügbar seien.

Flure und Foyers nicht mehr heizen

In Deutschland ist die Sorge groß, dass Moskau immer wieder Vorwände wie die Wartungsarbeiten findet, um die Gaslieferungen auch weiterhin einzuschränken - oder gar ganz einzustellen. Man dürfe keineswegs davon ausgehen, dass die Lieferungen über derzeit 40 Prozent der Leitungskapazitäten stetig so  weitergingen, sagte Habeck. Äußerungen aus Russland, das Land sei Garant der Energieversorgung in Europa, seien eine "Verdrehung jeder Tatsache". Russland nutze seine Macht, um Deutschland und Europa zu erpressen. "Und erweist sich jeden Tag als unsicherer Kantonist bei der Energieversorgung in Europa."

Deutschland Wirtschaftsminister Robert Habeck
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wirft Wladimir Putin Erpressung vorBild: Tobias Steinmaurer/dpa/APA/picture alliance

Als Reaktion auf die nur gedrosselt wieder angelaufenen Gaslieferungen will der Wirtschaftsminister eine Reihe von Verordnungen und Gesetzen zur Energiesicherung auf den Weg bringen. Dazu gehört, dass die 23 Gasspeicher in Deutschland schon im September zu 75 Prozent gefüllt sein sollen, am 1. November sollen es 95 Prozent sein. Bisher in Reserve gehaltene Braunkohlekraftwerke sollen zum 1. Oktober ans Netz gehen. In Privatwohnungen sollen Heizungen effizienter eingestellt werden und in öffentlichen Einrichtungen und Bürogebäuden sollen Flure, Hallen und Foyers nicht mehr beheizt werden. "Wir brauchen einen langen Atem", sagte Habeck. Man stehe erst vor dem ersten Winter, doch auch der Winter 2023/2024 werde Europa noch vor Herausforderungen stellen. 

Die Bundesregierung geht davon aus, dass Russland die Liefermenge nicht wieder auf das vertraglich vereinbarte Normalmaß hochfahren wird. Denn daran hat Russland politisch kein Interesse, wie auch der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller betont, der darauf verweist, dass Russland seine Liefermengen über andere Pipeline, beispielsweise durch die Ukraine, jederzeit erhöhen könnte und es bislang nicht getan hat.

Wer wäre von einem Gas-Stopp betroffen?

Gerade erst beklagte sich Gazprom darüber, dass wichtige Unterlagen für den Wiedereinbau der Turbine fehlten. "Gazprom hat bis heute vom Konzern Siemens keine offiziellen Dokumente erhalten, die es unter den Bedingungen der Sanktionen Kanadas und der EU erlauben, den Gasturbinenmotor in die Kompressorstation Portowaja einzubauen", heißt es auf dem Telegram-Kanal des Konzerns.

Deutschland Gerhard Schröder Nord Stream
Ein Bild aus einer anderen Zeit: am 8.11.2011 wird die Pipeline Nord Stream 1 eröffnetBild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Sollte überhaupt kein Gas mehr fließen, würde es schwierig. Die Bundesnetzagentur geht davon aus, dass es dann zu einer Gasmangellage in Deutschland kommen würde und entschieden werden müsste, welche Verbraucher welche Mengen bekommen.

Da Privathaushalte, soziale Einrichtungen und Bezieher von Fernwärme gesetzlich geschützt sind, wäre vor allem die Industrie von einem Lieferstopp betroffen. Wie sich das auswirken würde, darüber gehen die Meinungen auseinander. Das würde auch davon abhängen, wie sich der Verbrauch der Privathaushalte entwickelt, was die europäischen Partner nach Deutschland liefern können und wie schnell die Flüssiggasterminals gebaut werden.

Sparpotenzial ist vorhanden

Laut Bundeswirtschaftsministerium ist der Anteil der russischen Gaslieferungen, der früher im Mittel bei 55 Prozent lag, bis Ende Juni 2022 auf 26 Prozent gesunken. Die Zahlen stammen vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft in Deutschland. Der Verband kommt angesichts der reduzierten russischen Liefermenge zu dem Schluss, dass im Juli nur noch knapp zehn Prozent des Gasverbrauchs von Russland gedeckt werden. Doch derzeit ist Sommer und es wird nicht geheizt.

Der Ökonom Rüdiger Bachmann, Professor an der Notre Dame University in Indiana, geht davon aus, dass jedes LNG-Terminal ungefähr fünf Prozent des Gasbedarfs ersetzen könnte. Im Gespräch mit der DW verweist Bachmann zudem auf den Stopp der Gas-Verstromung, die durch Kohlekraftwerke ersetzt werden soll. Über den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken streitet die Bundesregierung noch.

Infografik Herkunft des in Deutschland verbrauchten Erdgases

Trotzdem: Kein schöner Winter

"Also, da haben wir noch einiges in der Hinterhand", beruhigt der Ökonom. "Die chemische Industrie hat gesagt, dass sie - so BASF - mit 50 Prozent gerade so durchkäme und eben nichts abschalten müsste, was dann irreversibel kaputt wäre." Jede Reduzierung der Heizwärme um ein Grad reduziere zudem "gewaltig" den Gasbedarf. "Also, die Szenarien sind da: Es wird kein schöner Winter werden, aber das muss jetzt angegangen werden."

Sollte Russland seine Gaslieferungen nicht wieder hochfahren, würde Gas in jedem Fall sehr viel teurer werden. Das birgt großen sozialen Sprengstoff, weil einkommensschwache Haushalte explodierende Heizkosten nicht bezahlen könnten und auch die Mittelschicht sie kaum verkraften könnte. Ökonom Bachmann sieht in diesem Fall den Staat in der Pflicht. "Ein erhöhter Gaspreis bedeutet eine Verarmung der Gesellschaft, eine ärmer werdende Gesellschaft."

Die Politik müsse festlegen, wer diese Last am Ende zu tragen habe. "Das können meiner Meinung nach nur die starken Schultern in der Gesellschaft sein, also zum Beispiel meine Professoren-Kollegen in Deutschland und entsprechende andere aus dieser Schicht."

Gazprom will liefern

Bei allem bleibt aber die Frage, ob Russland es sich überhaupt leisten kann, den Gashahn komplett abzudrehen. Russlands Wirtschaft ist in der Krise, der Kreml braucht das Geld aus dem Exportgeschäft, um den Krieg gegen die Ukraine weiter zu finanzieren. Zudem wäre ein Lieferstopp ein Vertragsbruch und das Eingeständnis, dass der Kreml seine Energielieferungen sehr wohl als politische Waffe einsetzt.

Jenseits der angedeuteten Verzögerungen versicherte Putin in Teheran daher auch: "Gazprom erfüllt seine Verpflichtungen, hat sie stets erfüllt und ist gewillt, weiterhin alle seine Verpflichtungen zu erfüllen." Alles andere - das weiß Putin - wäre ein verheerendes Signal an alle russischen Kunden. Auch an Abnehmer wie China und Indien, die ihre Geschäfte mit Russland derzeit ausbauen.

Der Artikel wurde am 20. Juli erstmals publiziert und zuletzt am 21. Juli aktualisiert.