Nickerchen im Reich der Vögel
26. Oktober 2017Manchmal sind Wissenschaftler dankbar, dass es Taubenzüchter gibt. Zum Beispiel, wenn bei der fröhlichen Rassenzüchterei "Budapester Kurze" entstehen - eine Taubenrasse, die mit ihren riesigen Augen und durchscheinenden Augenlidern einem Comic entsprungen zu sein scheint.
Für Vogelschlafforscher wie Niels Rattenborg am Max-Planck-Institut für Ornithologie (MPI) in Seewiesen sind diese Tauben extrem praktisch: Ihre großen schwarzen Pupillen lassen sich durch die Augenlider hindurch beobachten - auch dann, wenn die Tiere schlafen.
"Wir sehen, wie sich die Augen und Pupillen bewegen - und wollen verstehen, wie diese Bewegungen damit zusammenhängen, was das Tier am Tag erlebt hat."
Ja, richtig gelesen: Niels Rattenborg ist Vogelschlafforscher - und das schon seit gut zwanzig Jahren. Nicht gerade ein weit verbreitetes Forschungsgebiet: Wer nach "Vogelschlafforscher" googelt, bekommt fünf Treffer - sie alle führen zu Niels Rattenborg.
Zum Vogelschlaf kam der US-Amerikaner mit dänischen Wurzeln über seine Liebe zu Vögeln und dem Praktikum in einem (Menschen-)Schlaflabor. Beides kombiniert ergab eine ganz neue Forschungsfrage: Wie schlafen eigentlich Vögel - und warum bewerkstelligen sie in punkto Schlaf Dinge, die wir Menschen nicht können?
Schlaflos durch Alaska
Tauben sind richtige Langschläfer, sagt Rattenborg: "Im Labor schlafen sie fast die ganze Nacht hindurch und machen auch den halben Tag über ein Nickerchen." Halten die Forscher sie vom Mittagsschläfchen ab, schlafen sie in der darauffolgenden Nacht intensiver; sie müssen also - wie wir auch - ihren Akku wieder aufladen. "Allerdings wissen wir nicht, ob sie auch in freier Wildbahn so viel schlafen", ergänzt Rattenborg.
Tatsächlich scheint es bei vielen Vogelarten in freier Natur mit dem Schlaf nicht weit her zu sein - oft bleibt dafür einfach keine Zeit. Der Graubruststrandläufer etwa schläft während seiner dreiwöchigen Balzzeit so gut wie gar nicht - er gönnt sich maximal eine Stunde Powernapping am Tag.
Der Graubruststrandläufer lebt in der Arktis. Die Männchen paaren sich während der Balzzeit mit so vielen Weibchen wie möglich; mit der Aufzucht der Jungen haben sie nichts zu tun. "Sie müssen also lediglich rund um die Uhr um die Weibchen konkurrieren - und das können sie auch, denn im arktischen Sommer steht die Sonne quasi ununterbrochen am Himmel", erklärt Rattenborg.
Eine 24/7-Balz lohnt sich für die Vögel, hat Rattenborg gemeinsam mit anderen Vogelforschern am MPI Seewiesen herausgefunden: "Die Männchen, die am wenigsten schliefen, zeugten die meisten Jungen. Aus Evolutionssicht haben sie sich also extrem gut angepasst." Wenig zu schlafen, ist bei dieser Art ein klarer Vorteil - und hat sich daher in der Evolution durchgesetzt.
Schlummern im Flug
Auch Fregattvögel können uns neidisch machen: Wenn sie hoch zu Luft unterwegs sind und mit ihren mehr als zwei Meter breiten Flügeln über das tropische Meer gleiten, kommen sie mit 42 Minuten Schlaf pro Tag aus. Und dafür müssen sie nicht mal landen: Sie schlafen während des Flugs.
Auf dem Meer landen dürften sie auch gar nicht, denn ihr Gefieder ist nicht wasserabweisend; es würde sich vollsaugen. Fregattvögel verbringen den größten Teil ihres Lebens über dem Wasser und jagen dort Fische und Kalmare.
Niels Rattenborg und Alexei Vyssotski vom Institut für Neuroinformatik der ETH Zürich haben mit Data-Loggern das Wach- und Schlafverhalten der Tiere im Flug untersucht. Und es zeigte sich: Fregattvögel fallen während des Flugs nicht nur in Tiefschlaf, sondern sogar in kurze REM-Schlafepisoden.
Beim REM-Schlaf erschlafft die Skelettmuskulatur, Blutdruck und Puls steigen, und das Gehirn ist genauso aktiv wie im Wachzustand. Beim Menschen dauert eine REM-Phase bis zu zwei Stunden. Die Fregattvögel allerdings beschränken sich auf fünf Sekunden. Sie verlieren dabei auch nicht ihre gesamte Muskelspannung, denn dann würden sie vom Himmel fallen. "Ihr Kopf sank lediglich herunter, wenn sie in REM-Schlaf gingen", sagt Rattenborg. "Ihre Fähigkeit zu gleiten wurde davon nicht beeinträchtigt."
Schlafen muss jeder - die Frage ist wie viel
Bis zu zehn Tage am Stück verbringt ein Fregattvogel im Flug über dem Meer. Und in all dieser Zeit schläft er also im Schnitt nur 42 Minuten pro Tag. "Wenn wir so etwas versuchen würden, wären wir in ganz schön schlechter Verfassung", sagt Niels Rattenborg.
Alle Tiere - Menschen eingeschlossen - müssen schlafen; warum genau wissen Forscher noch immer nicht genau. Sie vermuten, dass das Gehirn im Schlaf Nervenverknüpfungen neu ordnet und sich so regeneriert und die Informationen des Tages verarbeitet.
Wie viel ein Tier schlafen muss, ist von der Art abhängig. Fledermäuse schlafen bis zu 20 Stunden pro Tag, eine Giraffe nur etwa vier Stunden. Menschen wiederum brauchen um die acht Stunden.
Nicht nur das Militär wäre erpicht darauf, ein Mittel zu finden, das das Schlafbedürfnis beim Menschen ausschaltet - und uns zumindest zeitweise zu Graubruststrandläufern macht. Aber bisher waren solche Versuche erfolglos. "Wir haben noch keinen Weg gefunden, auf Schlaf verzichten zu können", sagt Rattenborg. "Und ich glaube auch nicht, dass das für Menschen eine gute Idee wäre."
Evolutionär ist das bei uns einfach nicht vorgesehen: Wir müssen weder ununterbrochen fliegen noch ununterbrochen um Geschlechtspartner kämpfen - so wie einige Vogelarten eben.
Wenn nur das halbe Hirn schläft
Viele Tiere - darunter Delfine und Seelöwen - haben einen Weg gefunden, gleichzeitig zu schlafen und wach zu bleiben: Sie schlafen mit nur einer Gehirnhälfte, die andere passt auf. Bei den Meeressäugern ist das vermutlich notwendig, um nicht zu ertrinken.
Auch Fregattvögel können während des Flugs mit nur einer Gehirnhälfte schlafen, hat Niels Rattenborg vor kurzem nachgewiesen. Eine Hälfte bleibt wach und ein Auge offen. "Möglicherweise schauen sie sich damit nach anderen Fregattvögeln um. Wenn alle Vögel voll schlafen, könnten sie sonst in der Luft kollidieren - das wäre gar nicht gut."
In einer Gruppe von Enten wiederum schalten die Vögel am Rande der Gruppe in den sogenannten Halbhirnschlaf um. Mit einem Auge halten sie nach möglichen Raubtieren Ausschau.
So was können Menschen nicht? Stimmt nicht ganz: Ein Forscherteam in den USA hat im letzten Jahr herausgefunden, dass auch unsere Hirnhälften nicht immer gleich tief schlafen.
Wenn wir eine Nacht in einer neuen Umgebung verbringen, im Hotel beispielsweise, bleibt eine Gehirnhälfte aufmerksamer als die andere. Auch ist ein Ohr empfindlicher für Geräusche. In der zweiten Nacht am neuen Ort schlafen beide Hirnhälften wieder gleich tief.
"Das fand ich wirklich spannend", sagt Rattenborg. "Denn es zeigt, dass unsere Arbeit an Enten offensichtlich dazu beitrug, ein Phänomen bei menschlichem Schlaf aufzuklären."
Möglicherweise sind wir Vögeln also doch ähnlicher, als wir dachten.