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Pythagoras der Plagiator?

9. August 2021

a² + b² = c² lernt jedes Kind. Offenbar haben die Babylonier schon vor 3700 Jahren und damit 1000 Jahre vor Pythagoras die Trigonometrie zur Landvermessung genutzt. Muss die Mathematikgeschichte neu geschrieben werden?

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Zwei behandschuhte Hände halten die kleine, runde babylonische Tontafel
Klein, aber oho: Diese Tontafel sorgt in der Welt der Mathematik für AufregungBild: UNSW Sydney

Eine geheimnisvolle Tontafel könnte die Geschichte der Mathematik revolutionieren. Ausgegraben wurde das gute Stück bereits 1894 in der Nähe des heutigen Bagdad, aber seitdem schlummerte es vergessen in der hintersten Ecke des Archäologiemuseums in Istanbul.

2018 stieß der australische Mathematiker Daniel Mansfield von der University of New South Wales (UNSW) auf ein Foto des Artefakts und war gleich begeistert von den perfekten Rechtecken. Er reiste in die Türkei und untersuchte die mysteriöse Tafel.

Jetzt endlich konnte er das Rätsel lösen: Das 3700 Jahre alte Stück aus der altbabylonischen Periode ist nicht nur die älteste bekannte Darstellung angewandter Geometrie, sondern enthält auch ein neues antikes Verständnis von Dreiecken.

Hat Pythagoras abgeschrieben?

Laut der jetzt in der Zeitschrift "Foundations of Science" veröffentlichten Studie " Plimpton 322: A Study of Rectangles" muss vielleicht sogar die Geschichte der Mathematik neu geschrieben werden. "Die Entdeckung und Analyse der Tafel hat wichtige Auswirkungen auf die Geschichte der Mathematik", so Daniel Mansfield in The Sydney Morning Herald.

Gemälde Die Schule von Athen, Ausschnitt Pythagoras
Ausschnitt aus dem Gemälde "Die Schule von Athen": So stellte sich Raphael den verehrten Pythagoras vor Bild: Public Domain

Denn bislang ging man in der Mathematik davon aus, dass die Trigonometrie von den alten Griechen bzw. vom Philosophen und Mathematiker Pythagoras entwickelt wurde. Die neue Analyse zeigt aber, dass die Trigonometrie bereits tausend Jahre vor der Geburt von Pythagoras genutzt wurde.

Brüche statt Winkel

Bereits 2017 hatte der australische Mathematiker Mansfield eine höchst interessante Studie über eine andere, etwa postkartengroße Tonscherbe mit der Bezeichnung Plimpton 322 veröffentlicht, die die älteste bekannte trigonometrische Tabelle in Keilschrift zeigt. 

Tontafel Plimpton 322 mit Zahlen in Keilschrift
Die Funktion der Tontafel Plimpton 322 mit Zahlen in Keilschrift war lange unklarBild: Public Domain

Laut Mansfield seien die Berechnungen der Babylonier viel genauer als die der Griechen gewesen, weil sie im Gegensatz zu denen der Griechen nicht auf Winkeln und Kreisfunktionen, sondern auf Zahlenverhältnissen basierten. Ähnlich wie unsere Zeiteinheit verwendeten die Babylonier eine auf 60 basierende Zählung, wodurch ihre Brüche viel häufiger ganze Zahlen ergaben, es also weniger Rundungsfehler gab.

Plimpton 322 stammt aus der gleichen babylonischen Zeit, aber wofür diese Zahlenreihe genutzt wurde, ob vielleicht für den Bau von Gebäuden oder für die Vermessung von Feldern, konnte bislang nur vermutet werden.

Vorderseite der babylonischen Tontafel
Die runde Tafel ist ein Katasterdokument, in dem die genauen Grenzen des Landbesitzes festgehalten wurdenBild: UNSW Sydney

Genau diese Vermutungen werden nun aber durch die kleine, zerbrochene Tafel aus der altbabylonischen Zeit (1900 bis 1600 v. Chr.) bestätigt: Die runde Tafel mit der Bezeichnung Si.427 enthält rechtliche und geometrische Details über ein Stück Land, das aufgeteilt wurde, nachdem ein Teil davon verkauft worden war. Es ist also quasi ein Katasterdokument, in dem die genauen Grenzen des Landbesitzes festgehalten wurden.

Praktischer Nutzen

"Mit dieser neuen Tafel können wir zum ersten Mal sehen, warum sie sich für Geometrie interessierten: um präzise Landgrenzen festzulegen", erläutert Dr. Mansfield.

Um die Größe des Grundstückes zu bestimmen, musste aber erst einmal ein Landvermesser das Grundstück ausmessen und die Grenzen bestimmen. Dafür nutzte der Landvermesser die sogenannte "pythagoreische Dreiergruppe", um genaue rechte Winkel zu berechnen.

Rückseite der babylonischen Tontafel
Si.427 enthält neben geometrischen auch rechtliche Details über ein Stück Land, das aufgeteilt wurdeBild: UNSW Sydney

Pythagoreische Tripel werden von drei natürlichen Zahlen gebildet, die als Längen der Seiten eines rechtwinkeligen Dreiecks vorkommen können, etwa durch das Tripel 3,4,5. Mit den Seitenlängen solcher Dreiecke lassen sich somit auch rechte Winkel bestimmen.

Nachbarschaftsstreit beigelegt

"Die Tafel stammt aus einer Zeit, in der Land allmählich privat wurde - die Menschen fingen an, über Land im Sinne von 'mein Land und dein Land' nachzudenken und wollten eine richtige Grenze festlegen, um gute nachbarschaftliche Beziehungen zu haben", so Mansfield. "Und das ist es, was diese Tafel sofort zeigt. Es ist ein Feld, das geteilt wird, und es werden neue Grenzen gezogen."

Mathematiker Daniel Mansfield von der Universität Sydney UNSW untersucht die babylonische Tontafel
Trigonometrie bereits 1000 Jahre vor Pythagoras - Daniel Mansfield schreibt die Geschichte der Mathematik neuBild: UNSW Sydney

Laut Mansfield finden sich auch weitere altbabylonische Schrifttafeln, die eine ähnliche Vorgehensweise zur Abgrenzung von Landbesitz zeigen. So gehe es etwa um einem Streit um wertvolle Dattelpalmen an der Grenze zwischen zwei Grundstücken.

Der örtliche Verwalter bestellte einen Landvermesser, um den Konflikt zu schlichten. "Damit wird deutlich, wie wichtig Genauigkeit bei der Beilegung von Streitigkeiten zwischen damals mächtigen Personen war", erläutert Mathematiker Mansfield.

Komplexe Geometrie mit praktischem Nutzen - und das über tausend Jahre vor der Geburt von Pythagoras.

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund