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Neuer Rückenwind für deutschen Zirkus

Marlon Jungjohann
24. September 2021

Für Deutschlands Zirkusse war Corona ein Drahtseilakt. Nun sollen staatliche Hilfen der Branche aus der Krise helfen. Die Zirkuslandschaft stellt sich neu auf.

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Deutschland | Zirkusse in der Pandemie | Familie Probst
Vor der Pandemie reiste der Circus Probst mit Artisten und Artistinnen aus der ganzen Welt durch DeutschlandBild: Circus Probst

"Die Situation war dramatisch, als Corona anfing", erinnert sich Brigitte Probst. "Wir hatten die Flüge unserer Artisten gebucht, die Kosten für die ganze Saison vorfinanziert. Die Premiere unseres Tourneestarts war in Vorbereitung, die Generalproben liefen und wir waren guter Dinge, um loszulegen." Dann setzten die Corona-Maßnahmen ein, Deutschland ging in den ersten Pandemie-Lockdown. Für den familiengeführten Circus Probst bedeutete dies, so erzählt Brigitte Probst im DW-Interview, "das komplette Aus für die Saison."

Die Pandemie beendete nicht nur bei Circus Probst die Tournee, bevor sie angefangen hatte. In allen deutschen Manegen gingen die Lichter aus. Stillstand. Rund 350 Zirkusunternehmen, darunter familiengeführte Zirkusse, große Wanderzirkusse wie Roncalli oder Krone oder auch zeitgenössische Akrobatik-Ensembles mussten von jetzt auf gleich ihren Betrieb einstellen. Nicht anders erging es den etwa 900 lokalen zirkuspädagogischen Vereinen und Projekten, die deutschlandweit mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, und die ebenfalls zur Zirkuslandschaft gehören. Um sie finanziell aufzufangen, gab Kulturstaatsministerin Monika Grütters eine - in Deutschland bislang beispiellose - Förderung der Zirkusse in Auftrag.

Zirkusleiterin Brigitte Probst blickt nachdenklich aus dem Bild
Die Krise bereitet Sorgen: Auch die Kinder und Enkelkinder von Brigitte Probst leben vom FamilienzirkusBild: Circus Probst

Bund: Millionen sollen Zirkusse retten

"Die Zirkusse hatten keine Auftritte, keine Einnahmen", sagt Christina Peters, Projektleiterin der Förderinitiative "NEUSTART KULTUR im Circus", im DW-Gespräch. "Gerade Betreiber kleiner Zirkusse standen komplett an der Wand, mussten sich Alternativen überlegen, von staatlichen Überbrückungshilfen leben oder sogar von Hartz IV."

Die deutschen Zirkusse hatten ihre Existenzgrundlage verloren. Das bundesweite "NEUSTART" –Soforthilfeprogramm von Kulturstaatsministerin Grütters stellte als Reaktion darauf ab Oktober 2020 zunächst fünf Millionen Euro für die angeschlagene Branche bereit, die kurz darauf auf rund elf Millionen aufgestockt wurden. Verteilt wurden die Mittel durch ein eigens eingerichtetes Projektbüro. Peters: "Es handelt sich hier um eine Förderung, die erstmalig sowohl den Zirkus als Kulturgut fördert als auch dessen Infrastruktur." Das bis Juni 2022 angesetzte Projekt schüttet bis zu 100.000 Euro pro Antrag aus und unterstützt die Betriebe etwa bei Zeltankäufen oder der Anschaffung von Belüftungsanlagen, damit die Zirkusse trotz Corona auftreten können.

Bisher habe Deutschland Kulturbereiche wie Tanz, Theater oder Museen ganz selbstverständlich gefördert, sagt Peters, "aber den Zirkus eben nicht!" Weil Zirkusse häufig unternehmerisch wirtschafteten, zugleich aber auch Kultur machten, passten sie nicht in die starren Subventionskategorien. Diese zu ändern und so eine Anerkennung des Zirkus als Kulturgut zu ermöglichen, sieht die Projektleiterin als eine ihrer zentralen Aufgaben. Ihre Hoffnung: ein staatlicher Fonds, der die "langfristige Bundesförderung über alle Zirkussparten hinweg" sicherstellt.

Artisten und Artistinnen in bunten Kostümen verneigen sich in der Manege.
Bis zu 1500 Zuschauende passen in das familieneigene Zirkuszelt des Circus ProbstBild: Circus Probst

Andere EU-Staaten besser aufgestellt

Wolfgang Pruisken ist Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Zirkuspädagogik e.V. (BAG Zirkuspädagogik), einem Netzwerk von rund 250 Zirkuspädagogen und -pädagoginnen sowie 80 Einrichtungen. Er setzt sich für eine strukturelle Förderung des Zirkus ein. Andere europäische Staaten, sagt er, seien da viel weiter als Deutschland. "Frankreich ist unser Vorzeigeland, weil es schon vor zwanzig Jahren die staatliche Zirkusförderung beschlossen hat", so Pruisken. "Seitdem gibt es in Paris feste Anlaufstellen und es besteht dort ein riesiges Netzwerk." 

Auch hätten die französischen Nachbarn universitäre Ausbildungen für Zirkusartisten und -artistinnen, Bachelor- und Masterstudiengänge eingerichtet. Pruisken: “In fast allen kleinen Städten Frankreichs gibt es Zirkusschulen, die staatlich gefördert werden.“ Auch Länder wie Schweden, Dänemark, Belgien und die Niederlande unterstützten ihre Zirkusse und böten beispielsweise spezifische Bachelorabschlüsse für angehende Zirkuskünstlerinnen- und künstler an.

 "Entscheidender Schritt nach vorne"

Aus Erfahrung weiß Pruisken: "Um etwas zu ändern, braucht es Kommunikation und Kontakte." Und gerade hier hakt es in Deutschland. Ein richtiges, bundesweites Netzwerk aus Zirkussen und Zirkusschaffenden existiert nicht. Nicht nur innerhalb, auch zwischen den Sparten fehlt es an Austausch – und somit an wissenschaftlich fundierten Daten zu diesem Bereich der Kulturwirtschaft. Ohne Datenbasis und ohne organisierte Lobby aber, die die Interessen der Branche gegenüber der Politik vertritt, dürfte es schwer werden, eine dauerhafte Kulturförderung durchzusetzen. 

 Wolfgang Pruisken sitzt auf einem Stuhl im Garten
Für seinen Einsatz in der Kinder- und Jugendarbeit wurde Wolfgang Pruisken 2020 das Bundesverdienstkreuz verliehenBild: privat

 Eine Organisation, die sich im Bereich Zirkus seit Jahrzehnten mit der Mittelbeschaffung auskennt, ist die BAG Zirkuspädagogik. Um das "NEUSTART"-Förderprogramm unter möglichen Antragstellern bekannt zu machen, suchte sie den Schulterschluss mit vielen kleineren Vereinigungen wie dem Verband deutscher Zirkusunternehmen e.V. (VdCU) oder dem Bundesverband zeitgenössischer Zirkus e.V. (BUZZ). Das Ergebnis: von 181 Anträgen wurden 143 bewilligt und insgesamt 7,9 Millionen Euro ausgeschüttet. 

Damit nicht genug: Die Vereine, sagt Pruisken, würden ab jetzt ein gemeinsames Sprachrohr bilden: "Wir haben uns Mitte September in Berlin beim Deutschen Kulturrat getroffen – mit allen Verbänden, die mit uns über 'NEUSTART KULTUR im Circus' verbunden sind." Ab jetzt wolle man als ein gemeinsames Netzwerk auftreten, und versuchen, einen Fonds auf Bundesebene durchzusetzen. "Verrückterweise", so Pruisken, "haben wir durch die Pandemie einen entscheidenden Schritt nach vorne getan, den wir sonst nicht ohne Weiteres gemacht hätten."

Dank Förderung wieder groß dabei

Der Circus Probst leuchtet golden unter dem Weihnachtsschmuck.
Dank "NEUSTART"-Programm könnte er bald wieder leuchten: der Weihnachtscircus ProbstBild: Circus Probst

Auch Brigitte Probst setzt auf den neuen Zusammenschluss. Denn erst dauerhafte Hilfen, sagt sie, gäben Sicherheit: "Wenn wir ein Zirkuszelt kaufen, müssen wir einen Kredit aufnehmen von 150.000 bis 160.000 Euro. In anderen EU-Ländern gibt es da Zuschüsse." Warum nicht auch in Deutschland? Fürs erste hat das Programm "NEUSTART KULTUR im Circus" den Betrieb gesichert. Mit Geld aus dem Fonds konnten neue Zugangstunnel für das Zirkuszelt angeschafft und Hygienemaßnahmen finanziert werden. So kann die Weihnachtssaison kommen. "Wir sind bereit für die nächsten Auftritte."