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Gesellschaft

Taiwan: Indigene mit Mut

Klaus Bardenhagen
28. September 2019

Lange Jahre wurden Taiwans Ureinwohner verdrängt und diskriminiert. Doch der Wind hat sich gedreht. Besonders Frauen und Jüngere sind dabei, den Dörfern wieder eine Perspektive zu geben. Klaus Bardenhagen aus Jinyue.

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Taiwans Ureinwohner
Bild: DW/K. Bardenhagen

Wer aus Taiwans dicht besiedeltem Westen kommt und durch die kleine Siedlung Jinyue am Fuß der Berge nahe der Pazifikküste fährt, dem fallen schnell einige Besonderheiten auf. Am Straßenrand stehen geschnitzte Statuen von Wildschweinen und muskulösen Jägern im Lendenschurz, Speer und Messer fest umklammert. An der Grundschule zeigen farbenfrohe Mosaike und Malereien Jagdszenen und geometrische Muster, wie man sie traditionell in Trachten webt. Wenn die Hitze nachlässt und die Dämmerung heranzieht, spielen kleine Kinder auf der Straße. Ihre Eltern sitzen mit Freunden vor dem Haus, statt sich mit Smartphone vor den Fernseher zurückzuziehen.

Mit Taiwans vorherrschender Kultur, einer Mischung aus chinesischen und westlichen Einflüssen, hat das wenig zu tun. Und tatsächlich gehören die meisten der knapp 600 Einwohner von Jinyue auch nicht zur chinesischstämmigen Bevölkerungsmehrheit. Ihre Vorfahren sind nicht erst im Lauf der letzten vier Jahrhunderte vom Festland nach Taiwan eingewandert, sie lebten hier schon vor Tausenden von Jahren. Sie gehören zu den Atayal, einem von Taiwans 16 offiziell anerkannten Ureinwohnerstämmen. Vom Erscheinungsbild und den Traditionen her haben sie mehr gemein mit Malaien, Neuseelands Maori oder anderen Vertretern der austronesischen Volksgruppe.

Lange Zeit wurden Taiwans Ureinwohner unterdrückt und diskriminiert, und auch Jinyue verströmte noch vor wenigen Jahren vor allem Hoffnungslosigkeit, berichten Besucher von damals. Wer jung oder kräftig war, verließ den Ort. Einige gingen studieren, andere lernten einen Beruf. Zurück blieben Alte, Mütter mit kleinen Kindern und die, die sich in den Alkohol geflüchtet hatten.

Taiwans Ureinwohner
Dorfstraße von JinyueBild: DW/K. Bardenhagen

Selbstbewusstsein erwacht wieder

"Es war, als ob unsere Kultur zugewuchert und unter Unkraut verborgen war", sagt Chen Peng-ling. Die Familiengeschichte der 37-Jährigen ist typisch. Ihre Großmutter stammte noch aus Jinyue, sie aber wuchs in einer Stadt auf, lernte die Sprache der Atayal nicht und studierte in der Hauptstadt Taipeh. Doch nun leitet sie in Jinyue den Verein zur Ortsentwicklung, beantragt von ihrem Büro in einer renovierten alten Polizeiwache aus Fördergelder und versucht, das erwachende Selbstbewusstsein weiter anzufachen.

Denn seit einigen Jahren dreht sich der Wind. Etwa seit der Jahrtausendwende fördert Taiwans Regierung die Ureinwohner gezielt. In Dörfern wie Jinyue bilden sich selbstverwaltete Organisationen, um die lokale Wirtschaft anzukurbeln und jungen Leuten Perspektiven zu schaffen.

Obwohl die Atayal eine patriarchalische Gesellschaft sind - traditionell durften die Frauen ihre Männer nicht zur Jagd begleiten, nicht einmal die Waffen berühren -, zeigen heute oft Frauen wie Chen besondere Tatkraft und frische Ideen. Ein Studienprojekt hatte sie zurück nach Jinyue gebracht. "Als ich zu der Stelle kam, wo meine Großeltern gelebt hatten, hat mich das sehr bewegt", erzählt sie, "so geht es jungen Leuten oft, wenn sie zum Stammesland zurückkehren." Chen selbst widmete sich der neuen Aufgabe, zog nach ihrem Abschluss vor zehn Jahren nach Jinyue und half beim Aufbau des Entwicklungsvereins.

Taiwans Ureinwohner
Herrlicher Ausblick über PazifikBild: DW/K. Bardenhagen

Als die Bürokratie immer komplexer wurde, übernahm die studierte Raumplanerin auf Bitten der Älteren den Vorsitz. Seitdem arbeitet sie daran, Schritt für Schritt die Verhältnisse im Dorf zu verbessern. Sie organisiert Veranstaltungen, kümmert sich um den Vertrieb lokaler Produkte, um den Bau neuer Wanderwege und anderer Infrastruktur für nachhaltigen Tourismus.

Immer weiter in die Berge verdrängt

Verdrängung und Marginalisierung waren lange das Schicksal von Taiwans Ureinwohnern. Chinesische Siedler zwangen sie immer weiter nach Osten, in die unwegsamen Berge und Richtung Pazifikküste. Noch im 20. Jahrhundert schlugen japanische Kolonialherren ihren Widerstandsgeist brutal militärisch nieder. Als sich dann 1949 Chiang Kai-sheks Nationalchinesen nach Taiwan zurückzogen und allen Einwohnern verordneten, sie seien im Gegensatz zur Volksrepublik nun die wahren besseren Chinesen, blieb erst recht kein Freiraum mehr für kulturelle Eigenheiten der indigenen Ureinwohner.

Erst seit die Taiwaner im Zuge der Demokratisierung der 1990er Jahre ihre eigene Identität wieder entdeckten, wird auch die Kultur der indigenen Volksgruppen geschätzt und gefördert. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Obwohl Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen bei den Ureinwohnern um Entschuldigung für erlittenes Unrecht bat, gibt es noch Streit um die Rückgabe von Stammesland, das irgendwann verstaatlicht oder Unternehmen übertragen worden war.

Wie viele Ureinwohnersiedlungen liegt Jinyue inmitten prachtvoller Natur - mit Bergen, Wasserfällen und dem Strand vor der Haustür. Doch noch kennen die meisten Taiwaner Stereotype von tanzenden fröhlichen Ureinwohnern, wissen aber wenig über das normale Leben der Ureinwohner, die heute nur noch etwa eine halbe von 23 Millionen Einwohner ausmachen.

Taiwans Ureinwohner
Natur pur an der Ostküste TaiwansBild: DW/K. Bardenhagen

Mut zum Neubau

"Früher gab es hier nur zwei oder drei Pensionen. Und die Betreiber waren chinesischstämmig", erinnert sich Chuo Ling-chih. Mit 15 musste sie wie die meisten Gleichaltrigen Jinyue verlassen, weil es damals in der Nähe keine weiterführende Schule gab. Danach arbeitete sie an der Westküste als Krankenschwester. Als ihr Vater, ein Lkw-Fahrer, in Rente ging, kehrte sie 2013 zurück. Sie hatte eine Geschäftsidee. Gemeinsam mit ihren Eltern will sie ein Gästehaus betreiben, neu errichtet auf einem Stück Land, wo ihr Vater Hühner gehalten und Pilze angebaut hatte. "Ich glaube, viele der Atayal-Frauen sind eigentlich tapferer als die Männer", sagt die 37-Jährige. "Sie zeigen auch mehr Initiative." Bei der Planung schreckte sie nicht davor zurück, groß zu denken. Ein Förderprogramm für indigene Existenzgründer ermöglichte ihr mit einem günstigen Kredit den Bau des schmucken Hauses mit sechs Gästezimmern, das nun auf dem höchsten Punkt von Jinyue steht.

Wie die gleichaltrige Chen vom Entwicklungsverein begann auch Chuo erst als Erwachsene nach ihrer Rückkehr, die einheimische Sprache Atayal zu sprechen. Für die Dorfkinder von heute gibt es in der Grundschule eigens Unterricht in der Stammessprache. Auch Chuo spürte bei der Rückkehr eine besondere Verbindung zum Land der Vorfahren und den Menschen vor Ort. "Durch meine Arbeit als Krankenschwester war ich total assimiliert worden", sagt sie. "Aber hier wurde mir klar, dass ich trotzdem noch immer eine Atayal bin."

Taiwans Ureinwohner
Chuo Ling-chih vor ihrem GästehausBild: DW/K. Bardenhagen

Ihr Gästehaus, mittlerweile eines von etwa zehn im Ort, ist gut ausgelastet. Touristen kommen aus umliegenden Ländern wie Singapur oder Japan. Nach und nach entdecken auch Taiwaner die Ureinwohnerdörfer als lohnende Ziele für einen Kurzurlaub, der Kultur- und Naturerlebnisse verbindet. Chuo pendelt nach wie vor zwischen ihrer Arbeit als Krankenschwester und Jinyue. Manchmal kommen Gäste, denen die Nähe zur Natur offenbar zu weit geht, die sich beschweren, die Vögel seien zu laut oder die Sonne gehe zu früh auf. "Dann freue ich mich wieder auf die Intensivstation, dort sind die Patienten wenigstens ruhig", lacht sie.