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PolitikEuropa

Islamistische Anschläge: "Tendenz zur Radikalisierung"

13. September 2024

Junge Männer, die vom Balkan stammen, gleiten in den islamistischen Terror ab. Um das zu verhindern, braucht es Dialog, Integration und Prävention, sagt der österreichische Balkan-Historiker Robert Pichler.

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Bewaffnete in grün-grauen Uniformen kontrollieren ein blaues Auto, das mit geöffnetem Kofferraum auf einer Straße steht, daneben steht ein gepanzerter Polizei-Jeep
Schwer bewaffnete Polizisten kontrollieren am 5.9.2024 ein Fahrzeug in der Nähe des Israelischen Generalkonsulats in MünchenBild: Matthias Schrader/AP/dpa/picture alliance

Deutsche Welle: Herr Pichler, am 5. September 2024 wurde ein Terroranschlag auf das Israelische Generalkonsulat in München verhindert. Der Täter war ein bosnisch-stämmiger Österreicher, der bereits vorher als Islamist aufgefallen war. Das versuchte Attentat war - nach dem von 2020 in Wien und dem wegen Terrorgefahr abgesagten Konzert von Taylor Swift in der österreichischen Hauptstadt - der dritte Fall, bei dem die Täter junge muslimische Männer waren, die vom Balkan stammen. Gibt es in Südosteuropa ein Muster der Radikalisierung?

Robert Pichler: Antisemitismus ist unter Islamisten weit verbreitet, nicht nur auf dem Balkan, er durchdringt mittlerweile alle Schichten in den muslimischen Milieus. Von einem Muster würde ich nicht sprechen, aber von einer Tendenz, immer vor dem Hintergrund, dass die größte muslimische Zuwanderung in Österreich eben aus Ländern Südosteuropas kommt.

Offensichtlich bietet die Propaganda islamistischer Hassprediger für manche Muslime in Europa eine Art neue Heimat, wo sie sich angenommen fühlen und ihre schlimmsten Frustrationen in Ablehnung und Hass gegen alles vermeintlich Unheilige ummünzen können. Das Unheilige, das ist die westliche Lebensweise, also jene Werte und Freiheiten, die wir uns hier in langen Auseinandersetzungen gegen eine auf religiösen Dogmen beruhende Vorherrschaft erkämpft haben.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum diese westliche Lebensweise, nach der man sich im ehemals sozialistischen Südosten Europas so sehr gesehnt hatte, für gewisse Gruppen zu einer Bedrohung und letztlich zu einem derartigen Feindbild wurde, dass sie mit terroristischen Mitteln bekämpfen wollen.

Porträt eines Mannes mit grauen Haaren und grauem Vollbart
Doktor Robert Pichler ist Südosteuropa-Historiker und Migrationsforscher an der Akademie der Wissenschaften in WienBild: privat

Welche politischen Ziele wollen islamistische Terroristen konkret erreichen?

Zuerst mal ist Terrorismus eine Taktik, keine Ideologie. In dieser spiegelt sich aber die äußerste Form der Verachtung von Menschen, die nicht so denken, fühlen und handeln wie man selbst. Der islamistische Terror ist mit einer Heilserwartung verbunden, dem Attentäter wird ein paradiesisches Jenseits und Ruhm durch die gleichgesinnte Nachwelt versprochen.

Der radikal islamistische Terror des IS lebt von der Vision einer islamischen politischen Ordnung, die die Legitimität des modernen souveränen Nationalstaates ablehnt und eine pan-islamische Politik im Sinne der Wiedererrichtung des Kalifats anstrebt.

Die jungen Menschen, die sich dieser Ideologie verschreiben, sind sich der politischen Implikationen ihres Handelns oft nicht wirklich bewusst: Sie werden vielmehr zu Instrumenten eines ferngesteuerten Fundamentalismus, der den Westen, seine Demokratie und seine Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte verachtet.

In der westlichen Wahrnehmung ist es vorwiegend der Islam, der von politischem Fundamentalismus missbraucht wird. Tatsächlich weist aber der Ethnonationalismus ähnliche Züge auf, man denke nur an die Verachtung von Demokratie und westlicher Lebensweise durch die Putin-treue russische Intelligenzija, die den Krieg gegen die Ukraine befeuert und in Teilen der Orthodoxie sowie in der extremen politischen Rechten und Linken in Europa Anklang findet.

Die Eltern der Täter von München und Wien kamen aus den Balkanländern, arbeiteten, fielen nicht auf in den westlichen Gesellschaften. Ihre Nachkommen haben eine bessere finanzielle Basis als sie - und dennoch gibt es einige, die ein offenes Ohr für islamistische gewalttätige Propaganda haben...

Es hat sich sehr viel geändert seit den 1970er und 80er Jahren. Damals sind die jugoslawischen Arbeitsmigranten nach Österreich oder nach Deutschland gekommen, um hier vorübergehend zu arbeiten. Nicht viele hatten die Absicht, dauerhaft zu bleiben, man sprach ja euphemistisch von "Gastarbeitern", nicht von Einwanderern. Diese erste Generation von Arbeitsmigranten war für die hiesige Bevölkerung kaum sichtbar.

Heute gilt es gerade in der jungen Einwanderer-Generation, aufzufallen, sichtbar zu sein, sich abzuheben von den anderen. Der Islam ist zum Distinktionsmerkmal geworden und ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser jungen Leute - vorwiegend Männer - hat die reaktionärsten Werte des Islam zum Maßstab, zu ihrer neuen Leitkultur auserkoren.

Wiener Schulen, in denen Muslime mittlerweile eine Mehrheit bilden, liefern ein beredtes Zeugnis für diese Entwicklung. Dort ist es cool, Muslim zu sein. Die Intoleranz, die damit häufig einhergeht, ist Ausdruck eines subalternen Überlegenheitsgefühls, sie schließt die Missachtung anderer Religionen ein, insbesondere des Judentums, aber auch von Frauen und sexuellen Minderheiten.

Kritische Stimmen aus dem eigenen Lager sind kaum auszumachen. Der islamischen Glaubensgemeinschaft, immerhin die offizielle Vertretung der Muslime in Österreich, fiel nach dem islamistischen Anschlagsversuch beim Taylor Swift-Konzert in Wien nichts weiter ein, als auf ihre grundsätzliche Ablehnung von Gewalt und Extremismus hinzuweisen.

Das liberale Bildungsmilieu in Österreich schaut zumeist weg, weil man nicht rassistisch und islamophob sein will. Dagegen nimmt in der Mehrheitsgesellschaft die Ablehnung des Islam sichtlich zu, aus einem verbreiteten Misstrauen wurde mittlerweile ein tiefsitzendes Ressentiment, das sich bei den kommenden Wahlen mit großer Wahrscheinlichkeit Gehör verschaffen wird.

Männer ziehen einen Gepäckwagen auf einem Bahnsteig, links und rechts sind Züge zu sehen, hinter den Männern sind viele weitere Menschen zu sehen
Gastarbeiter aus dem damaligen Jugoslawien auf dem Frankfurter Hauptbahnhof im Dezember 1972Bild: picture-alliance/dpa

Welche Rolle spielen Identitätskonflikte bei den islamistischen Jugendlichen?

Die Herausforderungen, die mit einem Wechsel des Lebensmittelpunktes und den identitätspolitischen Auseinandersetzungen einhergehen, werden oft nicht ausreichend reflektiert. Für die Kinder, aber auch für die Frauen, die zumeist ohne Sprachkenntnisse und Ausbildung nach Österreich nachkamen, ist dieser Bruch oft sehr schwierig. Sie leiden unter Benachteiligungen, werden wegen ihrer Herkunft diskriminiert und finden sich oft in schlecht bezahlten Jobs wieder.

In meinen Lehrveranstaltungen begegne ich immer wieder Kindern ehemaliger Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, deren Interesse vorwiegend darin besteht, mehr über ihre Herkunft und die Hintergründe zu erfahren, warum sie in Österreich gelandet sind; zuhause wird darüber kaum gesprochen, viele stellen sich ganz elementare Identitätsfragen - über ihre Herkunft, über das kulturelle Erbe der Eltern und Großeltern, und natürlich auch über die Ursachen der Kriege.

Viele dieser jungen Menschen sind auf der Suche, probieren sich aus und entdecken alternative Lebenswelten, von denen die islamisch-geprägte - die es ja in vielen Schattierungen gibt - nur eine unter mehreren ist. Wien bietet dafür ja eine reiche Palette an Möglichkeiten.

Männer, die auf Tüchern oder Teppichen in einem Hof knien, verbeugen sich
Bosnische Muslime beim Gebet in der Gazi Husrev-beg Moschee in SarajevoBild: Armin Durgut/AP Photo/picture alliance

Für die Menschen aus den Balkanländern ist ihr Herkunftsmilieu eine sehr wichtige Säule der Verbindung zur Heimat. Welche Folgen hat das?

Für Menschen mit Migrationshintergrund aus Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien oder Kosovo bleibt das Herkunftsmilieu von großer Relevanz. Aus den engen Familienbeziehungen und sozialen Banden will und kann man sich nicht einfach lösen. Das trifft besonders auf jene zu, die aus den ländlichen Gebieten Ex-Jugoslawiens stammen, die von den sozialistischen Modernisierungsprozessen nur rudimentär erfasst wurden. Dort sind nach wie vor konservative, muslimisch-patriarchale Denkmuster besonders ausgeprägt. Das erleichtert die Anbindung an muslimische Gemeinschaften etwa in Wien, wo diesen Denk- und Lebensweisen neue Nahrung gegeben wird.

Dieser Konservativismus ist keinesfalls mit einem gewaltaffinen Islamismus gleichzusetzen; der wird erst dann relevant, wenn junge Menschen orientierungslos sind, sich ausgegrenzt fühlen und sich bei ihnen ein Maß an Frustration angestaut hat, das es radikalen Predigern ermöglicht, sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Alarmzeichen dafür ist oft gerade die Abkehr von der eigenen Familie, von etablierten Bindungen und Freundschaften.

Weiße Stelen mit arabischen Inschriften stehen in Reihen, an eine schmiegt sich eine Frau, die ein Kopftuch trägt
Eine bosnische Muslimin trauert neben dem Grab ihres Verwandten, der dem Völkermord von Srebrenica zum Opfer gefallen ist, in der Gedenkstätte Srebrenica in PotocariBild: Armin Durgut/AP Photo/picture alliance

Die Täter bei allen genannten Anschlägen waren junge Männer, die sich hier im Westen radikalisiert haben - nicht auf dem Balkan. Man spricht davon, dass der Islam in Albanien, Bosnien, Nordmazedonien und Kosovo von Toleranz geprägt ist. Dennoch gibt es auch dort radikale Strömungen. Wie groß ist die Gefahr, die von ihnen ausgeht, für die Balkanländer selbst?

Das Image des grundsätzlich toleranten Islam auf dem Balkan ist bis zu einem gewissen Grad auch ein Euphemismus. Der Balkan ist von Radikalisierungstendenzen ja keinesfalls ausgenommen. Er bildet eine Grenzregion, in der divergierende Kräfte in besonderer Schärfe aufeinandertreffen. Im Unterschied zu Mitteleuropa haben die Menschen auf dem Balkan aber eine lange Erfahrung mit multikulturellem Zusammenleben. Man tut sich deshalb auch leichter im Umgang mit religiösen und kulturellen Unterschieden.

Auf der anderen Seite hat gerade Jugoslawien eine enorm brutale Desintegrationserfahrung hinter sich. Der grassierende Ethnonationalismus hat auch maßgeblich zu einer Politisierung religiöser Differenzen beigetragen. Die Mobilisierung historischer Mythen und die Hetze gegen Muslime war vor allem unter nationalistischen, konkret kroatischen und serbischen, und kirchlichen, also katholischen und orthodoxen Kreisen, weit verbreitet. Das hat entscheidend zum Ausbruch des Krieges beigetragen und in weiterer Folge zu Vertreibungen bis hin zum Genozid.

Diese Erfahrungen haben sich tief ins kollektive Gedächtnis vieler Muslime eingeschrieben. Die Polarisierung hat zu einer Reaktivierung religiöser Zugehörigkeiten in Abhebung vom ethnischen Gegenüber geführt. Dieser neue balkanische Islam, der von karitativen muslimischen Organisationen aus dem arabischen Raum und aus der Türkei mitgetragen wird, hat oft eine klar antiwestliche Stoßrichtung.

Männer sitzen mit dem Rücken zu den Betrachtenden auf Teppichen in einem Raum, sie blicken auf eine Art Altar, an der Decke hängt ein großer Kronleuchter
Muslime beten am 6. November 2020 in einer Moschee in Wien für die Opfer des Attentats vom 2. NovemberBild: Leonhard Foeger/REUTERS

Junge Männer, die sich radikalisiert haben, sprechen oft einwandfrei die Sprache des Landes, in das ihre Eltern eingewandert sind und in dem sie aufgewachsen sind und leben - und dennoch sehen sie dieses Land als Feind. Was ist da schiefgelaufen? Laut einer Studie konzentrieren sich Islamisten auf junge Muslime, die Frustration über die westliche Integration erlebt haben. Haben diese jungen Leute sich immer fremd und nicht angenommen gefühlt - und rächen sich dafür?

Ja, die Integration ist bei diesen jungen Menschen offensichtlich schiefgelaufen. Man darf aber nicht vergessen, dass eine überwältigende Mehrheit der zugewanderten Muslime in Österreich sehr wohl die Gesetze und die Verfassung respektieren und sich weitgehend auch mit Österreich identifizieren.

Dass dem Islam in Österreich verbreitet Animositäten entgegenschlagen, steht außer Zweifel. Mit der verstärkten Zuwanderung aus Bosnien, den albanischen Gebieten Jugoslawiens und natürlich aus der Türkei hat sich das Bild vom Islam vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten drastisch gewandelt. Aus einem paternalistischen Islamverständnis ist ein von Misstrauen, Angst und Vorbehalten geprägtes Verhältnis geworden.

Viele Kinder von ehemaligen Gastarbeitern erlebten die Schwierigkeiten ihrer Eltern, sich in die österreichische Gesellschaft einzuordnen. Oftmals haben sich die Eltern untergeordnet, haben Demütigungen hingenommen und sich verschwiegen angepasst. Die neue Generation, die hier geboren ist und aufwächst, lässt sich diese Kränkungen - zu Recht - nicht mehr gefallen. Es geht dabei aber oft nicht darum, einen Ausgleich zu finden, sondern es kommt zu Polarisierungen, die sich auch im Alltag manifestieren.

Schild mit blauem Rand, auf dem in schwarzer Schrift auf weißem Untergrund "Zuwanderer willkommen" steht
Hinweisschild in Wien aus dem Jahr 2009. Dort bemühen sich Stadt und Wirtschaftskammer schon lange, mehr Migranten in die Wirtschaft einzubindenBild: DW

Was könnte die Aufnahmegesellschaft besser machen und was ist die Aufgabe der Schulen und anderer Institutionen?

Ich glaube nicht, dass es grundsätzlich an Akzeptanzbereitschaft fehlt, auch nicht an Geld und den ökonomischen Möglichkeiten. Es gibt in Österreich einen Mangel in vielen Berufssparten, auch Facharbeiter werden händeringend gesucht, es liegt also nicht an der ökonomischen Not.

Zweifellos ist Bildung ein Schlüsselfaktor, aber viele Schulen mit einem hohen Anteil an Zuwanderern sind nicht mehr primär mit Wissensvermittlung befasst, sondern leisten Sozialarbeit, Krisenmanagement, Kompensationsarbeit für aus dem Lot geratene Eltern-Kind-Beziehungen, für die Bearbeitung von Traumata, die die Kinder und Jugendlichen aus Krisen- und Kriegsregionen weiter in sich tragen, und sie fungieren als ausgleichendes Instrument gegen religiösen und ethnischen Radikalismus. Gerade in diesem Bereich wäre eine fundierte Bildung im Sinne eines aufgeklärten Denkens von eminenter Bedeutung.

Radikalisierung ist ein komplexes Problem, dass sich nicht mit populistischen Rezepten lösen lassen wird. Die Suche nach Ursachen und die Entwicklung von Lösungen kann nur auf der Grundlage von Dialog, Integration und Prävention basieren.

Dr. Robert Pichler ist Historischer Anthropologe am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In seinen Forschungen befasst er sich mit Migration und Transnationalismus, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan und bildwissenschaftlichen Fragestellungen.

Porträt einer dunkelblonden Frau, die ein rosa Jacket trägt
Lindita Arapi Journalistin, Moderatorin, Autorin