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PolitikPolen

Ein regionaler Kulturzug verbindet Deutschland und Polen

Jacek Lepiarz Warschau
5. Januar 2023

Für 19 Euro von Berlin nach Breslau - mit dem Kulturzug kommt man nicht nur von einem Ort zum anderen. Die Regionalverbindung bietet auch ein Kulturprogramm für die Fahrgäste. Im Jahr 2023 geht es weiter.

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Deutsch-polnischer Kulturzug
Der deutsche-polnische Kulturzug pendelt zwischen Berlin und Wroclaw (Breslau)Bild: Normen Schoene

Seit 2016 rollt er, der Kulturzug zwischen der deutschen Hauptstadt Berlin und der polnischen Stadt Wroclaw, dem ehemals deutschen Breslau in Schlesien. Viereinhalb Stunden dauert die Fahrt zwischen der Stadt an der Spree und der Metropole an der Oder, Zeit genug, um die Reisenden über die Kultur des jeweils anderen Landes zu informieren und zu unterhalten. Mit an Bord: Schriftsteller, Musiker, Kulturschaffende, eine Bibliothek und eine Dauerausstellung.

Das Projekt, ursprünglich nur für ein halbes Jahr konzipiert, entwickelte sich in den vergangenen Jahren zu einer angesehenen Institution, die weit über das deutsch-polnische Grenzgebiet hinaus ausstrahlt.

Wo Polen und Berlin zusammenarbeiten 

"Ich bin zweifellos einer der Ideengeber", sagt der frühere Stadtpräsident von Wroclaw, Rafal Dutkiewicz. (Das Amt des Stadtpräsidenten entspricht dem eines Oberbürgermeisters in Deutschland, Anm. d. Red.) "Ein Mitarbeiter aus dem Rathaus machte den Vorschlag und hatte auch gleich einen Namen: 'Pociag do kultury' - Kulturzug", erinnert sich der liberale Politiker. Ziel sei es gewesen, die Zusammenarbeit Polens mit Berlin und dem Land Brandenburg im Kulturbereich zu entwickeln und eine zwei Jahre zuvor eingestellte Zugverbindung zwischen beiden Städten wiederherzustellen.

Auf deutscher Seite habe eine "Gruppe junger kreativer Leute" entscheidend zur Umsetzung der Idee und zum Erfolg beigetragen.

Vor der Jungfernfahrt des Kulturzugs: Oliver Spatz (Projektleiter), Ewa Strozczynska-Wille und Natalie Wasserman stehen im Bahnhof Berlin Lichtenberg vor dem Kulturzug
Vor der Jungfernfahrt des Kulturzugs: Oliver Spatz (Projektleiter), Ewa Strozczynska-Wille und Natalie Wasserman Bild: Ksenia Les

Schon lange vor dem Beginn des Projekts hatten sich die Germanistin und Theaterwissenschaftlerin Ewa Strozczynska-Wille, die Dramaturgin und Übersetzerin Natalie Wasserman und der Regisseur und Produzent Oliver Spatz für die grenzüberschreitende deutsch-polnische Zusammenarbeit engagiert. Spatz, der von 2015 bis 2016 Leiter des Kleist-Forums in Frankfurt an der Oder war, fungiert bis heute als Projektleiter des Kulturzugs.  

"Die Idee, Kultur im Zug zu machen, hatten wir schon länger. Die Ausrufung Wroclaws zur Europäischen Kulturhauptstadt im Jahr 2016 bot uns die einmalige Chance, unseren Traum zu erfüllen", erzählt Wasserman. Eigentlich habe es weder einen Vater noch eine Mutter des Kulturzuges gegeben, sondern eine "Konglomerat von Ideen".

Jungfernfahrt ausgebucht 

Als der Kulturzug am 30. April 2016 vom Berliner Bahnhof Lichtenberg zu seiner Jungfernfahrt startete, hielt das Team um Kulturmanager Spatz den Atem an. "Wir hatten Angst, dass wegen der langen Fahrtzeit niemand mitfährt", erinnert er sich.  

Doch die Wirklichkeit übertraf alle Hoffnungen. "Wir wurden völlig überrascht. Es gab viel mehr Reisewillige als wir Plätze hatten. Wir hatten eine Kapazität von 420 Plätzen geplant. Nach zwei Wochen war alles ausverkauft. Das hat uns umgehauen", sagt Wasserman nicht ohne Stolz.

Die Organisatoren standen vor einer schwierigen Aufgabe: Sie mussten mit ihrem Kulturprogramm sehr verschiedene Menschengruppen erreichen. Ein Basisprogramm richtete sich an ein breites Publikum. Es gab ein Quiz und eine mobile Bibliothek an Bord. Die Fahrgäste sollten einfache Fragen beantworten, etwa nach der Zahl der Bundesländer bzw. Woiwodschaften in beiden Staaten. "Es ging darum, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen", erklärt Wasserman.

Literatur, Musik, Theater und Disco im Zug

Vor allem aber wurde im Zug diskutiert, musiziert, Theater gespielt, getanzt und vorgetragen. Sogar Club-Nächte und Tanztees auf der Schiene gab es, etwas für jeden Geschmack, eine "kulturelle Wundertüte", wie es ein Journalist der Tageszeitung taz einmal ausdrückte.

Dorota Danielewicz , die aus Polen stammende Berliner Schriftstellerin liest im Kulturzug aus ihrem Buch "Der weiße Gesang"
Die aus Polen stammende Berliner Schriftstellerin Dorota Danielewicz liest im Kulturzug aus ihrem Buch Bild: Privat

"Im Zug herrscht fantastische, aufgeschlossene Stimmung", schwärmt die aus Polen stammende Berliner Schriftstellerin Dorota Danielewicz. "Die Menschen tauschen ihre Erfahrungen aus, und es werden neue Bekanntschaften geschlossen." Die Autorin ist fast Stammgast im Kulturzug. So hat sie ihre Bücher "Auf der Suche nach der Seele Berlins" und "Der weiße Gesang", in dem sie weißrussische Bürgerrechtlerinnen porträtierte, auf der Fahrt vorgestellt. Aber sie nutzt ihn auch nur zum eigenen Vergnügen: "Manchmal fahre ich aber einfach zum Weihnachtsmarkt in Wroclaw", sagt sie.

Nicht nur Kulturschaffende, auch Politiker nutzten den Zug. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) zum Beispiel diskutierte bei einer Fahrt mit dem damaligen Stadtpräsidenten Dutkiewicz über die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen. Der Berliner Senator für Kultur und Europa, Klaus Lederer (Die Linke), erläuterte seinen polnischen Kollegen die Lage in der deutschen Hauptstadt. "Der Kulturzug schafft informelle Ebenen für verstärkte Vernetzung", erklärt Projektleiter Spatz.

Deutschland Polen Dietmar Woidke mit Rafał Dutkiewicz im Kulturzug
Der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke (links) und der damalige Stadtpräsident von Wroclaw (Breslau) Rafal Dutkiewicz (rechts) im Kulturzug im Juli 2017Bild: Staatskanzlei Brandenburg

Zunächst war das Projekt nur für ein halbes Jahr - von Mai bis Oktober 2016 - angelegt. Doch der große Erfolg und der Ansturm der Fahrgäste - im ersten Jahr wurden 22.000 Passagiere registriert - führten dazu, dass es immer wieder verlängert wurde. "Es hieß immer: bis Ende des Jahres, dann ist Schluss", berichtet Natalie Wasserman. "Wir rechneten jedes Jahr mit dem Ende, aber es ging immer weiter." Mit der Zeit entwickelte sich der Kulturzug zu einem deutsch-polnischen Hit. Die COVID-Pandemie unterbrach zwar für ein Jahr die Verbindung, aber seit Juni 2021 rollt der Kulturzug wieder.

Netzwerke bauen im deutsch-polnischen Kulturzug 

"Der Kulturzug wurde zu einem Vehikel zum Aufbau eines Netzwerkes, das in die Regionen, in die Städte hineinreicht. Es gibt Projekte, die sich aus dem Kulturzug entwickelt haben", betont Wasserman. Und Projektleiter Spatz ergänzt, dass immer mehr polnische Städte, etwa Poznan (Posen) und Szczecin (Stettin) Interesse an dem Projekt bekundet hätten.

Mit Discobeats von Berlin nach Breslau

Seit dem Start des Kulturzugs wurden mehr als 80.000 Fahrgäste befördert. Dazu kommen noch 6000 ukrainische Flüchtlinge, die im März und April 2022 mit dem Zug von Polen nach Deutschland gebracht wurden.

Für 19 Euro von Berlin nach Breslau

Bis vor kurzem war die Deutsch-Polnische Gesellschaft in Berlin Trägerin des Projekts, die Bundesländer Berlin und Brandenburg übernahmen die Kosten. Doch nun ist die Zeit des Provisoriums vorbei. Die rot-rot-grüne Koalition, die das Land Berlin seit 2021 regiert, hat die Finanzierung des Kulturzuges im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Seit Oktober 2022 hat das Projekt einen neuen Träger, die landeseigene Gesellschaft Kulturprojekte Berlin.

Der Kulturzug rollt durch winterliche Landschaften zwischen Berlin und Breslau am 29.12.2022
Der Kulturzug rollt durch winterliche Landschaften am 29.12.2022Bild: Norman Schöne/Kultur Projekte Berlin

Projektleiter Oliver Spatz und sein Team können endlich weiter als bis zum Jahresende planen. Nach der Silvester-Fahrt am vergangenen Wochenende gibt es erst mal eine dreimonatige Pause. Ab April 2023 wird der Zug dann wieder rollen, diesmal mit Halt in Boleslawiec (Bunzlau), bekannt durch seine dunkelblaue Keramik. Für 19 Euro kann man dann von Berlin nach Breslau fahren, Kulturprogramm inklusive.

Am neuen Programm wird schon jetzt intensiv gearbeitet. Als Moderator soll unter anderem der Publizist Wolfgang Templin auftreten. "Die Deutschen wissen zu wenig über den polnischen Beitrag zur europäischen Freiheitsgeschichte. Ich will versuchen, diese Lücke zu schließen", kündigt der frühere ostdeutsche Regimekritiker im Gespräch mit der DW an.

Porträt eines Mannes mit grauem Haar vor einem Regal mit Büchern
Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.